lich so war, dafür liefert jedes Lehrbuch jener Zeit auf jeder Seite die Beweise.
Ein solcher Zustand ist aber für jede Wissenschaft gefährlich; was nützt es, daß einzelne hervorragende Männer diesen oder jenen Theil der Wissenschaft fördern, wenn die Zusammenfassung fehlt und dem Anfänger keine Gelegenheit gegeben ist, das Beste im Zusammenhang kennen zu lernen. Indeß, noch zur rechten Zeit fand sich der rechte Mann, der es verstand, die träge Be- haglichkeit aus ihrem Halbschlaf aufzurütteln, den Zeitgenossen nicht bloß in Deutschland, sondern überall, wo Botanik getrieben wurde, zu zeigen, daß es auf diese Weise nicht weiter fortgehen dürfe. Dieser Mann war Matthias Jacob Schleiden (geboren zu Ham- burg 1804, lange Zeit Professor in Jena). Ausgerüstet mit einer nur zu weit gehenden Kampflust, mit einer Feder, die rücksichts- los verletzen konnte, jeden Augenblick schlagfertig, zu Uebertreibungen sehr geneigt, war Schleiden ganz der Mann, wie ihn der da- malige Zustand der Botanik brauchte. Sein Auftreten wurde wenigstens anfangs gerade von den hervorragendsten Botanikern, welche später den eigentlichen Fortbau der Wissenschaft durchführten, freudig begrüßt, wenn auch später freilich ihre Wege weit aus- einander gingen, als es nicht mehr bloß einzureißen, sondern neu aufzubauen galt. Wenn man Schleiden's Werth an den von ihm entdeckten Thatsachen messen wollte, so würde man ihn kaum über dem Niveau der gewöhnlicheren, besseren Botaniker finden: eine Reihe recht guter Monographieen, zahlreiche Berich- tigungen alter Irrthümer u. dergl. würden sich aufzählen lassen; die wichtigsten von ihm aufgestellten Theorieen aber, um welche viele Jahre hindurch eine lebhafte Polemik unter den Botanikern entbrannte, sind jetzt längst widerlegt. Schleiden's wahre historische Bedeutung ist aber vorhin bereits angedeutet worden: nicht durch das, was er als Forscher leistete, sondern durch das, was er von der Wissenschaft forderte, durch das Ziel, welches er hinstellte und in seiner Großartigkeit gegenüber dem kleinlichen Wesen der Lehrbücher allein gelten lies, erwarb er sich ein großes Verdienst. Er ebnete denen, welche wirklich Großes leisten
Morphologie und Syſtematik unter dem Einfluß der
lich ſo war, dafür liefert jedes Lehrbuch jener Zeit auf jeder Seite die Beweiſe.
Ein ſolcher Zuſtand iſt aber für jede Wiſſenſchaft gefährlich; was nützt es, daß einzelne hervorragende Männer dieſen oder jenen Theil der Wiſſenſchaft fördern, wenn die Zuſammenfaſſung fehlt und dem Anfänger keine Gelegenheit gegeben iſt, das Beſte im Zuſammenhang kennen zu lernen. Indeß, noch zur rechten Zeit fand ſich der rechte Mann, der es verſtand, die träge Be- haglichkeit aus ihrem Halbſchlaf aufzurütteln, den Zeitgenoſſen nicht bloß in Deutſchland, ſondern überall, wo Botanik getrieben wurde, zu zeigen, daß es auf dieſe Weiſe nicht weiter fortgehen dürfe. Dieſer Mann war Matthias Jacob Schleiden (geboren zu Ham- burg 1804, lange Zeit Profeſſor in Jena). Ausgerüſtet mit einer nur zu weit gehenden Kampfluſt, mit einer Feder, die rückſichts- los verletzen konnte, jeden Augenblick ſchlagfertig, zu Uebertreibungen ſehr geneigt, war Schleiden ganz der Mann, wie ihn der da- malige Zuſtand der Botanik brauchte. Sein Auftreten wurde wenigſtens anfangs gerade von den hervorragendſten Botanikern, welche ſpäter den eigentlichen Fortbau der Wiſſenſchaft durchführten, freudig begrüßt, wenn auch ſpäter freilich ihre Wege weit aus- einander gingen, als es nicht mehr bloß einzureißen, ſondern neu aufzubauen galt. Wenn man Schleiden's Werth an den von ihm entdeckten Thatſachen meſſen wollte, ſo würde man ihn kaum über dem Niveau der gewöhnlicheren, beſſeren Botaniker finden: eine Reihe recht guter Monographieen, zahlreiche Berich- tigungen alter Irrthümer u. dergl. würden ſich aufzählen laſſen; die wichtigſten von ihm aufgeſtellten Theorieen aber, um welche viele Jahre hindurch eine lebhafte Polemik unter den Botanikern entbrannte, ſind jetzt längſt widerlegt. Schleiden's wahre hiſtoriſche Bedeutung iſt aber vorhin bereits angedeutet worden: nicht durch das, was er als Forſcher leiſtete, ſondern durch das, was er von der Wiſſenſchaft forderte, durch das Ziel, welches er hinſtellte und in ſeiner Großartigkeit gegenüber dem kleinlichen Weſen der Lehrbücher allein gelten lies, erwarb er ſich ein großes Verdienſt. Er ebnete denen, welche wirklich Großes leiſten
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Morphologie und Syſtematik unter dem Einfluß der
lich ſo war, dafür liefert jedes Lehrbuch jener Zeit auf jeder
Seite die Beweiſe.
Ein ſolcher Zuſtand iſt aber für jede Wiſſenſchaft gefährlich;
was nützt es, daß einzelne hervorragende Männer dieſen oder
jenen Theil der Wiſſenſchaft fördern, wenn die Zuſammenfaſſung
fehlt und dem Anfänger keine Gelegenheit gegeben iſt, das Beſte
im Zuſammenhang kennen zu lernen. Indeß, noch zur rechten
Zeit fand ſich der rechte Mann, der es verſtand, die träge Be-
haglichkeit aus ihrem Halbſchlaf aufzurütteln, den Zeitgenoſſen
nicht bloß in Deutſchland, ſondern überall, wo Botanik getrieben
wurde, zu zeigen, daß es auf dieſe Weiſe nicht weiter fortgehen dürfe.
Dieſer Mann war Matthias Jacob Schleiden (geboren zu Ham-
burg 1804, lange Zeit Profeſſor in Jena). Ausgerüſtet mit einer
nur zu weit gehenden Kampfluſt, mit einer Feder, die rückſichts-
los verletzen konnte, jeden Augenblick ſchlagfertig, zu Uebertreibungen
ſehr geneigt, war Schleiden ganz der Mann, wie ihn der da-
malige Zuſtand der Botanik brauchte. Sein Auftreten wurde
wenigſtens anfangs gerade von den hervorragendſten Botanikern,
welche ſpäter den eigentlichen Fortbau der Wiſſenſchaft durchführten,
freudig begrüßt, wenn auch ſpäter freilich ihre Wege weit aus-
einander gingen, als es nicht mehr bloß einzureißen, ſondern
neu aufzubauen galt. Wenn man Schleiden's Werth an den
von ihm entdeckten Thatſachen meſſen wollte, ſo würde man ihn
kaum über dem Niveau der gewöhnlicheren, beſſeren Botaniker
finden: eine Reihe recht guter Monographieen, zahlreiche Berich-
tigungen alter Irrthümer u. dergl. würden ſich aufzählen laſſen;
die wichtigſten von ihm aufgeſtellten Theorieen aber, um welche
viele Jahre hindurch eine lebhafte Polemik unter den Botanikern
entbrannte, ſind jetzt längſt widerlegt. Schleiden's wahre
hiſtoriſche Bedeutung iſt aber vorhin bereits angedeutet worden:
nicht durch das, was er als Forſcher leiſtete, ſondern durch das,
was er von der Wiſſenſchaft forderte, durch das Ziel, welches
er hinſtellte und in ſeiner Großartigkeit gegenüber dem kleinlichen
Weſen der Lehrbücher allein gelten lies, erwarb er ſich ein
großes Verdienſt. Er ebnete denen, welche wirklich Großes leiſten
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Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sachs_botanik_1875/214>, abgerufen am 24.11.2024.
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