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Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875.

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der Organe von Caesalpin bis auf Linne.
und Weltanschauungen hervorwachsen. Zu den schlimmsten Seiten
der Scholastik und aristotelischen Philosophie gehört die Verwechs-
lung bloßer Begriffe und Worte mit dem objectiven Wesen der
durch sie bezeichneten Dinge; besonders gern leitete man das
Wesen der Dinge aus der ursprünglichen Bedeutung der Worte
ab und sogar die Frage nach der Existenz oder Nichtexistenz
eines Dinges wurde aus dem Begriffe desselben beantwortet.
Diese Art des Denkens finden wir nun bei Linne überall da,
wo er nicht blos als Systematiker und Beschreiber thätig ist,
sondern über das Wesen der Pflanzen und ihrer Lebenserscheinungen
Auskunft geben will, so in seinen Fundamenten, der Philosophia
botanica
und ganz besonders in dem Amoenitates academicae.
Unter zahlreichen Beispielen sei nur die Art hervorgehoben, wie
er die Sexualität der Pflanzen zu erweisen sucht. Linne kannte
und rühmte die Verdienste des Rudolph Jacob Camera-
rius, der als echter Naturforscher die Sexualität der Pflanzen
auf dem einzig möglichen Wege, dem des Experimentes, erwiesen
hatte; dieser experimentelle Nachweis indessen läßt ihn kalt, er
erwähnt ihn nur ganz nebenbei, dagegen verwendet er seine
ganze Kunst auf eine ächt scholastische Beweisführung, welche aus
dem Wesen der Pflanze die Existenz der Sexualität als noth-
wendig erweisen soll; er knüpft seine Beweisführung an den durch
unvollständige Induction gewonnenen Satz Harveys: omne
vivum ex ovo,
den er offenbar für ein a priori feststehendes
Princip hält und folgert nun daraus, daß auch die Pflanzen
aus einem Ei entstehen müssen, indem er übersieht, daß in dem
Satze omne vivum ex ovo die Pflanzen ohnehin schon die
Hälfte des omne vivum ausmachen; dann aber fährt er fort,
"daß die Pflanzen aus einem Ei entstehen, lehrt uns die Ver-
nunft und die Erfahrung; die Cotyledonen bestätigen es" Ver-
nunft, Erfahrung und Cotyledonen! das ist gewiß eine sehr
merkwürdige Zusammenstellung von Gründen. Zuerst hält er
sich im folgenden Satz an die Cotyledonen, welche nach ihm bei
den Thieren aus dem Eidotter hervorkommen, in welchem sich
der Lebenspunct befinde; folglich, sagt er, sind die Samenblätter

der Organe von Caeſalpin bis auf Linné.
und Weltanſchauungen hervorwachſen. Zu den ſchlimmſten Seiten
der Scholaſtik und ariſtoteliſchen Philoſophie gehört die Verwechs-
lung bloßer Begriffe und Worte mit dem objectiven Weſen der
durch ſie bezeichneten Dinge; beſonders gern leitete man das
Weſen der Dinge aus der urſprünglichen Bedeutung der Worte
ab und ſogar die Frage nach der Exiſtenz oder Nichtexiſtenz
eines Dinges wurde aus dem Begriffe desſelben beantwortet.
Dieſe Art des Denkens finden wir nun bei Linné überall da,
wo er nicht blos als Syſtematiker und Beſchreiber thätig iſt,
ſondern über das Weſen der Pflanzen und ihrer Lebenserſcheinungen
Auskunft geben will, ſo in ſeinen Fundamenten, der Philosophia
botanica
und ganz beſonders in dem Amoenitates academicae.
Unter zahlreichen Beiſpielen ſei nur die Art hervorgehoben, wie
er die Sexualität der Pflanzen zu erweiſen ſucht. Linné kannte
und rühmte die Verdienſte des Rudolph Jacob Camera-
rius, der als echter Naturforſcher die Sexualität der Pflanzen
auf dem einzig möglichen Wege, dem des Experimentes, erwieſen
hatte; dieſer experimentelle Nachweis indeſſen läßt ihn kalt, er
erwähnt ihn nur ganz nebenbei, dagegen verwendet er ſeine
ganze Kunſt auf eine ächt ſcholaſtiſche Beweisführung, welche aus
dem Weſen der Pflanze die Exiſtenz der Sexualität als noth-
wendig erweiſen ſoll; er knüpft ſeine Beweisführung an den durch
unvollſtändige Induction gewonnenen Satz Harveys: omne
vivum ex ovo,
den er offenbar für ein a priori feſtſtehendes
Princip hält und folgert nun daraus, daß auch die Pflanzen
aus einem Ei entſtehen müſſen, indem er überſieht, daß in dem
Satze omne vivum ex ovo die Pflanzen ohnehin ſchon die
Hälfte des omne vivum ausmachen; dann aber fährt er fort,
„daß die Pflanzen aus einem Ei entſtehen, lehrt uns die Ver-
nunft und die Erfahrung; die Cotyledonen beſtätigen es“ Ver-
nunft, Erfahrung und Cotyledonen! das iſt gewiß eine ſehr
merkwürdige Zuſammenſtellung von Gründen. Zuerſt hält er
ſich im folgenden Satz an die Cotyledonen, welche nach ihm bei
den Thieren aus dem Eidotter hervorkommen, in welchem ſich
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[93/0105] der Organe von Caeſalpin bis auf Linné. und Weltanſchauungen hervorwachſen. Zu den ſchlimmſten Seiten der Scholaſtik und ariſtoteliſchen Philoſophie gehört die Verwechs- lung bloßer Begriffe und Worte mit dem objectiven Weſen der durch ſie bezeichneten Dinge; beſonders gern leitete man das Weſen der Dinge aus der urſprünglichen Bedeutung der Worte ab und ſogar die Frage nach der Exiſtenz oder Nichtexiſtenz eines Dinges wurde aus dem Begriffe desſelben beantwortet. Dieſe Art des Denkens finden wir nun bei Linné überall da, wo er nicht blos als Syſtematiker und Beſchreiber thätig iſt, ſondern über das Weſen der Pflanzen und ihrer Lebenserſcheinungen Auskunft geben will, ſo in ſeinen Fundamenten, der Philosophia botanica und ganz beſonders in dem Amoenitates academicae. Unter zahlreichen Beiſpielen ſei nur die Art hervorgehoben, wie er die Sexualität der Pflanzen zu erweiſen ſucht. Linné kannte und rühmte die Verdienſte des Rudolph Jacob Camera- rius, der als echter Naturforſcher die Sexualität der Pflanzen auf dem einzig möglichen Wege, dem des Experimentes, erwieſen hatte; dieſer experimentelle Nachweis indeſſen läßt ihn kalt, er erwähnt ihn nur ganz nebenbei, dagegen verwendet er ſeine ganze Kunſt auf eine ächt ſcholaſtiſche Beweisführung, welche aus dem Weſen der Pflanze die Exiſtenz der Sexualität als noth- wendig erweiſen ſoll; er knüpft ſeine Beweisführung an den durch unvollſtändige Induction gewonnenen Satz Harveys: omne vivum ex ovo, den er offenbar für ein a priori feſtſtehendes Princip hält und folgert nun daraus, daß auch die Pflanzen aus einem Ei entſtehen müſſen, indem er überſieht, daß in dem Satze omne vivum ex ovo die Pflanzen ohnehin ſchon die Hälfte des omne vivum ausmachen; dann aber fährt er fort, „daß die Pflanzen aus einem Ei entſtehen, lehrt uns die Ver- nunft und die Erfahrung; die Cotyledonen beſtätigen es“ Ver- nunft, Erfahrung und Cotyledonen! das iſt gewiß eine ſehr merkwürdige Zuſammenſtellung von Gründen. Zuerſt hält er ſich im folgenden Satz an die Cotyledonen, welche nach ihm bei den Thieren aus dem Eidotter hervorkommen, in welchem ſich der Lebenspunct befinde; folglich, ſagt er, ſind die Samenblätter

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Zitationshilfe: Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sachs_botanik_1875/105>, abgerufen am 28.04.2024.