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Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875.

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Die künstlichen Systeme und die Nomenclatur
denen Linne schöpfte, so wird damit nur eine Pflicht der
Geschichtsschreibung erfüllt; Mißverstand wäre es, darin irgend
eine Beeinträchtigung des bedeutenden Mannes sehen zu wollen,
wünschenswerth ist vielmehr, daß alle Naturforscher gerade so,
wie Linne es gethan hat, das von ihren Vorgängern geleistete
Gute aufnähmen und es um ebenso viel wie er förderten.
Linne selbst hat die Quellen seines Wissens soweit sie ihm
bekannt waren, wiederholt citirt und oft genug die Verdienste
seiner Vorgänger mit einer Unbefangenheit gewürdigt, die nie-
mals eine Spur von Neid, wohl aber häufig eine enthusiastische
Verehrung verräth, wie ganz besonders die kurzen Charakteristiken
zeigen, welche er in den Classes plantarum den einzelnen Sy-
stemen vorausschickt. Linne verstand es, das Gute seiner Vor-
gänger nicht blos anzuerkennen und gelegentlich zu benutzen;
vielmehr wurden in ihm die Gedanken Anderer erst lebendig
und fruchtbar, indem er sie, wie seine eigenen Gedanken ver-
wendete, ihren principiellen Werth, soweit sie solchen besaßen,
überall zur Geltung brachte. Diese Lebensfrische war es offen-
bar, durch welche sich seine Nachfolger häufig zu dem Glauben
verleiten ließen, das Alles habe Linne selbst erdacht und
erfunden. Was Caesalpin und seine Nachfolger im 17.
Jahrhundert, ja sogar was Caspar Bauhin geleistet, erkennt
man erst recht deutlich bei der Lecture von Linne's Werken;
mit Bewunderung sieht man hier längst bekannte Gedanken jener
Männer, die dort aber unbedeutend und unvollendet auftreten,
bei Linne zu einem lebendigen Ganzen sich gestalten und inso-
fern war Linne zugleich im besten Sinne receptiv und produk-
tiv; und in der theoretischen Botanik hätte er vielleicht auf die-
sem Wege noch Größeres geleistet, wenn er nicht in einem
großen Irrthum befangen gewesen wäre, der bei ihm noch viel
schärfer als bei seinen Vorgängern und Zeitgenossen hervortritt,
in dem Irrthum nämlich, als ob die höchste und einzig würdige
Aufgabe darin bestehen müsse, alle Species des Pflanzenreichs
dem Namen nach genau zu kennen. Linne sprach dies mit
aller Schärfe aus und seine Schule in Deutschland und England

Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur
denen Linné ſchöpfte, ſo wird damit nur eine Pflicht der
Geſchichtsſchreibung erfüllt; Mißverſtand wäre es, darin irgend
eine Beeinträchtigung des bedeutenden Mannes ſehen zu wollen,
wünſchenswerth iſt vielmehr, daß alle Naturforſcher gerade ſo,
wie Linné es gethan hat, das von ihren Vorgängern geleiſtete
Gute aufnähmen und es um ebenſo viel wie er förderten.
Linné ſelbſt hat die Quellen ſeines Wiſſens ſoweit ſie ihm
bekannt waren, wiederholt citirt und oft genug die Verdienſte
ſeiner Vorgänger mit einer Unbefangenheit gewürdigt, die nie-
mals eine Spur von Neid, wohl aber häufig eine enthuſiaſtiſche
Verehrung verräth, wie ganz beſonders die kurzen Charakteriſtiken
zeigen, welche er in den Classes plantarum den einzelnen Sy-
ſtemen vorausſchickt. Linné verſtand es, das Gute ſeiner Vor-
gänger nicht blos anzuerkennen und gelegentlich zu benutzen;
vielmehr wurden in ihm die Gedanken Anderer erſt lebendig
und fruchtbar, indem er ſie, wie ſeine eigenen Gedanken ver-
wendete, ihren principiellen Werth, ſoweit ſie ſolchen beſaßen,
überall zur Geltung brachte. Dieſe Lebensfriſche war es offen-
bar, durch welche ſich ſeine Nachfolger häufig zu dem Glauben
verleiten ließen, das Alles habe Linné ſelbſt erdacht und
erfunden. Was Caeſalpin und ſeine Nachfolger im 17.
Jahrhundert, ja ſogar was Caspar Bauhin geleiſtet, erkennt
man erſt recht deutlich bei der Lecture von Linné's Werken;
mit Bewunderung ſieht man hier längſt bekannte Gedanken jener
Männer, die dort aber unbedeutend und unvollendet auftreten,
bei Linné zu einem lebendigen Ganzen ſich geſtalten und inſo-
fern war Linné zugleich im beſten Sinne receptiv und produk-
tiv; und in der theoretiſchen Botanik hätte er vielleicht auf die-
ſem Wege noch Größeres geleiſtet, wenn er nicht in einem
großen Irrthum befangen geweſen wäre, der bei ihm noch viel
ſchärfer als bei ſeinen Vorgängern und Zeitgenoſſen hervortritt,
in dem Irrthum nämlich, als ob die höchſte und einzig würdige
Aufgabe darin beſtehen müſſe, alle Species des Pflanzenreichs
dem Namen nach genau zu kennen. Linné ſprach dies mit
aller Schärfe aus und ſeine Schule in Deutſchland und England

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[90/0102] Die künſtlichen Syſteme und die Nomenclatur denen Linné ſchöpfte, ſo wird damit nur eine Pflicht der Geſchichtsſchreibung erfüllt; Mißverſtand wäre es, darin irgend eine Beeinträchtigung des bedeutenden Mannes ſehen zu wollen, wünſchenswerth iſt vielmehr, daß alle Naturforſcher gerade ſo, wie Linné es gethan hat, das von ihren Vorgängern geleiſtete Gute aufnähmen und es um ebenſo viel wie er förderten. Linné ſelbſt hat die Quellen ſeines Wiſſens ſoweit ſie ihm bekannt waren, wiederholt citirt und oft genug die Verdienſte ſeiner Vorgänger mit einer Unbefangenheit gewürdigt, die nie- mals eine Spur von Neid, wohl aber häufig eine enthuſiaſtiſche Verehrung verräth, wie ganz beſonders die kurzen Charakteriſtiken zeigen, welche er in den Classes plantarum den einzelnen Sy- ſtemen vorausſchickt. Linné verſtand es, das Gute ſeiner Vor- gänger nicht blos anzuerkennen und gelegentlich zu benutzen; vielmehr wurden in ihm die Gedanken Anderer erſt lebendig und fruchtbar, indem er ſie, wie ſeine eigenen Gedanken ver- wendete, ihren principiellen Werth, ſoweit ſie ſolchen beſaßen, überall zur Geltung brachte. Dieſe Lebensfriſche war es offen- bar, durch welche ſich ſeine Nachfolger häufig zu dem Glauben verleiten ließen, das Alles habe Linné ſelbſt erdacht und erfunden. Was Caeſalpin und ſeine Nachfolger im 17. Jahrhundert, ja ſogar was Caspar Bauhin geleiſtet, erkennt man erſt recht deutlich bei der Lecture von Linné's Werken; mit Bewunderung ſieht man hier längſt bekannte Gedanken jener Männer, die dort aber unbedeutend und unvollendet auftreten, bei Linné zu einem lebendigen Ganzen ſich geſtalten und inſo- fern war Linné zugleich im beſten Sinne receptiv und produk- tiv; und in der theoretiſchen Botanik hätte er vielleicht auf die- ſem Wege noch Größeres geleiſtet, wenn er nicht in einem großen Irrthum befangen geweſen wäre, der bei ihm noch viel ſchärfer als bei ſeinen Vorgängern und Zeitgenoſſen hervortritt, in dem Irrthum nämlich, als ob die höchſte und einzig würdige Aufgabe darin beſtehen müſſe, alle Species des Pflanzenreichs dem Namen nach genau zu kennen. Linné ſprach dies mit aller Schärfe aus und ſeine Schule in Deutſchland und England

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Zitationshilfe: Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sachs_botanik_1875/102>, abgerufen am 28.04.2024.