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Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877.

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ich wollte nicht drängen und nahm eines der vielen Bücher
zur Hand, die überall umher lagen. Es wurde ganz still im
Gemache; nur das Wasser im Kessel begann leise zu summen.
Endlich wandte sich Walberg zu mir: "Soll ich Ihnen die
Geschichte des armen Weibes erzählen, das sich heute in den
Wellen der Donau den Tod gegeben?" Und meine Zustim¬
mung vorweg nehmend, fuhr er fort: "Es ist eine traurige,
ja vielleicht eine häßliche Geschichte. Es kommt auf den Ge¬
sichtspunkt an, von welchem aus man sie betrachtet. Sie ken¬
nen meine Art und Weise, die Dinge aufzufassen; sie stimmt
mit der Ihrigen überein und so bin ich überzeugt, daß sie dem
unglücklichen Geschöpfe, trotz Allem, was Ihnen jetzt zu hören
bevorsteht, eine stille Thräne in Ihrem Herzen nicht werden
versagen können." Er war aufgestanden, hatte mir eine Tasse
gefüllt und sich dann wieder gesetzt.


Sie wissen, begann er, wie zurückgezogen, wie einförmig
ich lebe. Seit einer Reihe von Jahren verzichte ich auf Freu¬
den und Vergnügungen, welche Männern in unserem Alter,
in unseren Verhältnissen, natürlich und angemessen sind. Ich
sage absichtlich: daß ich verzichte; denn von Natur bin ich
eigentlich volllebig und eher zur Ausschreitung, als zur Be¬
schränkung geneigt. Aber das geistige Bewußtsein ist in mir

ich wollte nicht drängen und nahm eines der vielen Bücher
zur Hand, die überall umher lagen. Es wurde ganz ſtill im
Gemache; nur das Waſſer im Keſſel begann leiſe zu ſummen.
Endlich wandte ſich Walberg zu mir: „Soll ich Ihnen die
Geſchichte des armen Weibes erzählen, das ſich heute in den
Wellen der Donau den Tod gegeben?“ Und meine Zuſtim¬
mung vorweg nehmend, fuhr er fort: „Es iſt eine traurige,
ja vielleicht eine häßliche Geſchichte. Es kommt auf den Ge¬
ſichtspunkt an, von welchem aus man ſie betrachtet. Sie ken¬
nen meine Art und Weiſe, die Dinge aufzufaſſen; ſie ſtimmt
mit der Ihrigen überein und ſo bin ich überzeugt, daß ſie dem
unglücklichen Geſchöpfe, trotz Allem, was Ihnen jetzt zu hören
bevorſteht, eine ſtille Thräne in Ihrem Herzen nicht werden
verſagen können.“ Er war aufgeſtanden, hatte mir eine Taſſe
gefüllt und ſich dann wieder geſetzt.


Sie wiſſen, begann er, wie zurückgezogen, wie einförmig
ich lebe. Seit einer Reihe von Jahren verzichte ich auf Freu¬
den und Vergnügungen, welche Männern in unſerem Alter,
in unſeren Verhältniſſen, natürlich und angemeſſen ſind. Ich
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[198/0214] ich wollte nicht drängen und nahm eines der vielen Bücher zur Hand, die überall umher lagen. Es wurde ganz ſtill im Gemache; nur das Waſſer im Keſſel begann leiſe zu ſummen. Endlich wandte ſich Walberg zu mir: „Soll ich Ihnen die Geſchichte des armen Weibes erzählen, das ſich heute in den Wellen der Donau den Tod gegeben?“ Und meine Zuſtim¬ mung vorweg nehmend, fuhr er fort: „Es iſt eine traurige, ja vielleicht eine häßliche Geſchichte. Es kommt auf den Ge¬ ſichtspunkt an, von welchem aus man ſie betrachtet. Sie ken¬ nen meine Art und Weiſe, die Dinge aufzufaſſen; ſie ſtimmt mit der Ihrigen überein und ſo bin ich überzeugt, daß ſie dem unglücklichen Geſchöpfe, trotz Allem, was Ihnen jetzt zu hören bevorſteht, eine ſtille Thräne in Ihrem Herzen nicht werden verſagen können.“ Er war aufgeſtanden, hatte mir eine Taſſe gefüllt und ſich dann wieder geſetzt. Sie wiſſen, begann er, wie zurückgezogen, wie einförmig ich lebe. Seit einer Reihe von Jahren verzichte ich auf Freu¬ den und Vergnügungen, welche Männern in unſerem Alter, in unſeren Verhältniſſen, natürlich und angemeſſen ſind. Ich ſage abſichtlich: daß ich verzichte; denn von Natur bin ich eigentlich volllebig und eher zur Ausſchreitung, als zur Be¬ ſchränkung geneigt. Aber das geiſtige Bewußtſein iſt in mir

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Zitationshilfe: Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/saar_novellen_1877/214>, abgerufen am 23.11.2024.