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Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877.

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man ließ es sich gerne gefallen, daß er, nachgerade erst selbst
zu dieser Erkenntniß gelangend, seine Entlassung nahm. In
der großen Welt war er ebenfalls nicht fremd geblieben. Er
hatte sich in den hervorragendsten Kreisen bewegt, wo er eine
Zeit lang als liebenswürdiger Sonderling gesucht und wohl
aufgenommen war; endlich aber, da sich weder innere noch
äußere Anknüpfungspunkte ergeben wollten, übersah man, daß
er wegblieb. Nun war er ganz in sich selbst zurückgesunken
und hatte erreicht, was sein tief innerstes Wesen verlangte:
Freiheit und Muße zu einsamen Studien und beschaulichem
Denken, eine Bestimmung, welcher er sich um so getroster hin¬
geben konnte, als ihm eine kleine Rente bescheidene Unabhän¬
gigkeit sicherte. Und wie so ganz, wie erhaben erfüllte er
diese Bestimmung! Scheinbar unthätig, war er vom Morgen
bis tief in die Nacht hinein bemüht, alles Gewordene und
Werdende in sich aufzunehmen. Kein Zweig der Wissenschaft,
der Kunst und des öffentlichen Lebens lag ihm zu ferne; all
überall suchte und fand er Material zu einem großen Werke,
dessen Vorarbeiten ihn, wie er mir gestand, schon seit Jahren
in Anspruch nahmen, und dessen Ausführung er den Rest sei¬
nes Lebens zu widmen gedachte. Er hatte nämlich im Sinne,
eine Geschichte der Menschheit vom Standpunkte der Ethik
aus zu schreiben, welche gewissermaßen die Kehrseite des be¬
rühmten Buches von Thomas Buckle werden sollte. Von einer
glühenden Wahrheitsliebe beseelt, mit einem Blicke begabt,

man ließ es ſich gerne gefallen, daß er, nachgerade erſt ſelbſt
zu dieſer Erkenntniß gelangend, ſeine Entlaſſung nahm. In
der großen Welt war er ebenfalls nicht fremd geblieben. Er
hatte ſich in den hervorragendſten Kreiſen bewegt, wo er eine
Zeit lang als liebenswürdiger Sonderling geſucht und wohl
aufgenommen war; endlich aber, da ſich weder innere noch
äußere Anknüpfungspunkte ergeben wollten, überſah man, daß
er wegblieb. Nun war er ganz in ſich ſelbſt zurückgeſunken
und hatte erreicht, was ſein tief innerſtes Weſen verlangte:
Freiheit und Muße zu einſamen Studien und beſchaulichem
Denken, eine Beſtimmung, welcher er ſich um ſo getroſter hin¬
geben konnte, als ihm eine kleine Rente beſcheidene Unabhän¬
gigkeit ſicherte. Und wie ſo ganz, wie erhaben erfüllte er
dieſe Beſtimmung! Scheinbar unthätig, war er vom Morgen
bis tief in die Nacht hinein bemüht, alles Gewordene und
Werdende in ſich aufzunehmen. Kein Zweig der Wiſſenſchaft,
der Kunſt und des öffentlichen Lebens lag ihm zu ferne; all
überall ſuchte und fand er Material zu einem großen Werke,
deſſen Vorarbeiten ihn, wie er mir geſtand, ſchon ſeit Jahren
in Anſpruch nahmen, und deſſen Ausführung er den Reſt ſei¬
nes Lebens zu widmen gedachte. Er hatte nämlich im Sinne,
eine Geſchichte der Menſchheit vom Standpunkte der Ethik
aus zu ſchreiben, welche gewiſſermaßen die Kehrſeite des be¬
rühmten Buches von Thomas Buckle werden ſollte. Von einer
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[191/0207] man ließ es ſich gerne gefallen, daß er, nachgerade erſt ſelbſt zu dieſer Erkenntniß gelangend, ſeine Entlaſſung nahm. In der großen Welt war er ebenfalls nicht fremd geblieben. Er hatte ſich in den hervorragendſten Kreiſen bewegt, wo er eine Zeit lang als liebenswürdiger Sonderling geſucht und wohl aufgenommen war; endlich aber, da ſich weder innere noch äußere Anknüpfungspunkte ergeben wollten, überſah man, daß er wegblieb. Nun war er ganz in ſich ſelbſt zurückgeſunken und hatte erreicht, was ſein tief innerſtes Weſen verlangte: Freiheit und Muße zu einſamen Studien und beſchaulichem Denken, eine Beſtimmung, welcher er ſich um ſo getroſter hin¬ geben konnte, als ihm eine kleine Rente beſcheidene Unabhän¬ gigkeit ſicherte. Und wie ſo ganz, wie erhaben erfüllte er dieſe Beſtimmung! Scheinbar unthätig, war er vom Morgen bis tief in die Nacht hinein bemüht, alles Gewordene und Werdende in ſich aufzunehmen. Kein Zweig der Wiſſenſchaft, der Kunſt und des öffentlichen Lebens lag ihm zu ferne; all überall ſuchte und fand er Material zu einem großen Werke, deſſen Vorarbeiten ihn, wie er mir geſtand, ſchon ſeit Jahren in Anſpruch nahmen, und deſſen Ausführung er den Reſt ſei¬ nes Lebens zu widmen gedachte. Er hatte nämlich im Sinne, eine Geſchichte der Menſchheit vom Standpunkte der Ethik aus zu ſchreiben, welche gewiſſermaßen die Kehrſeite des be¬ rühmten Buches von Thomas Buckle werden ſollte. Von einer glühenden Wahrheitsliebe beſeelt, mit einem Blicke begabt,

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Zitationshilfe: Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/saar_novellen_1877/207>, abgerufen am 23.11.2024.