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Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877.

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nahm sie, ihrer unterbrochenen Arbeit sich besinnend, rasch
wieder Nadel und Faden auf.

Der Ankömmling erwiederte nichts, sondern schleppte sich
blos ein paar Schritte seitwärts, wo er sich mit allen Zeichen
der Erschöpfung im Grase niederließ. Dort lag er, während
die Sonne tiefer und tiefer sank, ihr letztes Gold verschüttend.
Lautlose Stille herrschte ringsum; nur hoch im lichten Azur
des Abendhimmels kreis'te mit lang gedehntem Schrei ein
Geier.

Plötzlich erklang in der Ferne ein wüster Männerchor.
Die Emsige schrack auf. "Jesus, da sind sie schon", sagte
sie halblaut zu sich selbst, "und ich habe die Jacke noch nicht
fertig."

Immer näher, immer stärker scholl der Gesang, und es
dauerte nicht lange, so kam eine Schaar verwildert aussehender
Gesellen heran, aus deren Mitte, besser als die Andern geklei¬
det, ein Mann von herkulischem Wuchse empor ragte. Er
mochte ungefähr fünfzig Jahre zählen; sein breites, aufgedun¬
senes Gesicht war vom Weine geröthet und der Strohhut, der
ihm tief im kurzen Genick saß, ließ graue, verworrene Haare
sehen. Er hatte seinen Rock ausgezogen und über die linke
Achsel geworfen; in der rechten Hand, die feist und stämmig
aus dem losen Hemdärmel hervorsah, trug er einen großen
Korb, welcher Lebensmittel aller Art enthielt. Zwei von den
Uebrigen trugen schwere, mit Kartoffeln gefüllte Säcke auf

nahm ſie, ihrer unterbrochenen Arbeit ſich beſinnend, raſch
wieder Nadel und Faden auf.

Der Ankömmling erwiederte nichts, ſondern ſchleppte ſich
blos ein paar Schritte ſeitwärts, wo er ſich mit allen Zeichen
der Erſchöpfung im Graſe niederließ. Dort lag er, während
die Sonne tiefer und tiefer ſank, ihr letztes Gold verſchüttend.
Lautloſe Stille herrſchte ringsum; nur hoch im lichten Azur
des Abendhimmels kreiſ'te mit lang gedehntem Schrei ein
Geier.

Plötzlich erklang in der Ferne ein wüſter Männerchor.
Die Emſige ſchrack auf. „Jeſus, da ſind ſie ſchon“, ſagte
ſie halblaut zu ſich ſelbſt, „und ich habe die Jacke noch nicht
fertig.“

Immer näher, immer ſtärker ſcholl der Geſang, und es
dauerte nicht lange, ſo kam eine Schaar verwildert ausſehender
Geſellen heran, aus deren Mitte, beſſer als die Andern geklei¬
det, ein Mann von herkuliſchem Wuchſe empor ragte. Er
mochte ungefähr fünfzig Jahre zählen; ſein breites, aufgedun¬
ſenes Geſicht war vom Weine geröthet und der Strohhut, der
ihm tief im kurzen Genick ſaß, ließ graue, verworrene Haare
ſehen. Er hatte ſeinen Rock ausgezogen und über die linke
Achſel geworfen; in der rechten Hand, die feiſt und ſtämmig
aus dem loſen Hemdärmel hervorſah, trug er einen großen
Korb, welcher Lebensmittel aller Art enthielt. Zwei von den
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[132/0148] nahm ſie, ihrer unterbrochenen Arbeit ſich beſinnend, raſch wieder Nadel und Faden auf. Der Ankömmling erwiederte nichts, ſondern ſchleppte ſich blos ein paar Schritte ſeitwärts, wo er ſich mit allen Zeichen der Erſchöpfung im Graſe niederließ. Dort lag er, während die Sonne tiefer und tiefer ſank, ihr letztes Gold verſchüttend. Lautloſe Stille herrſchte ringsum; nur hoch im lichten Azur des Abendhimmels kreiſ'te mit lang gedehntem Schrei ein Geier. Plötzlich erklang in der Ferne ein wüſter Männerchor. Die Emſige ſchrack auf. „Jeſus, da ſind ſie ſchon“, ſagte ſie halblaut zu ſich ſelbſt, „und ich habe die Jacke noch nicht fertig.“ Immer näher, immer ſtärker ſcholl der Geſang, und es dauerte nicht lange, ſo kam eine Schaar verwildert ausſehender Geſellen heran, aus deren Mitte, beſſer als die Andern geklei¬ det, ein Mann von herkuliſchem Wuchſe empor ragte. Er mochte ungefähr fünfzig Jahre zählen; ſein breites, aufgedun¬ ſenes Geſicht war vom Weine geröthet und der Strohhut, der ihm tief im kurzen Genick ſaß, ließ graue, verworrene Haare ſehen. Er hatte ſeinen Rock ausgezogen und über die linke Achſel geworfen; in der rechten Hand, die feiſt und ſtämmig aus dem loſen Hemdärmel hervorſah, trug er einen großen Korb, welcher Lebensmittel aller Art enthielt. Zwei von den Uebrigen trugen ſchwere, mit Kartoffeln gefüllte Säcke auf

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Zitationshilfe: Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/saar_novellen_1877/148>, abgerufen am 24.11.2024.