die Sonne schon hoch. Es war ein prachtvoller Pfingsttag. Hell und blau spannte sich der Himmel über den funkelnden Dächern aus und lustig zwitschernd schossen die Schwalben hin und her. In den Gassen herrschte feierliche Stille; hier und dort traten schmuck gekleidete Frauen und Mädchen mit Gebetbüchern in der Hand aus den Häusern, während wohl ein großer Theil der Bevölkerung schon mit dem Frühesten das Weichbild der Residenz hinter sich gelassen und die grünen Fluren und Höhen, die rauschenden Wälder der Umgegend aufgesucht hatte. Auch ich nahm Hut und Stock und verließ das Haus. Die Aquarelle und Zeichnungen Genelli's waren eben zur öffentlichen Ausstellung gelangt; ihnen wollt' ich den langen Vormittag widmen. Aber die Gestalten und Intentio¬ nen des genialen Künstlers, welcher so eigenthümlich nach Schönheit gerungen hatte, waren nicht im Stande, meinen Geist zu fesseln. Das Bild Mariannens stieg beständig vor mir auf und verknüpfte sich mit einer unsicheren Vorstellung von ihrem Gatten, welchen kennen zu lernen ich eine geheime Scheu trug. So verließ ich, zerstreut, wie ich gekommen, das Ausstellungsgebäude und schritt, da es noch immer nicht Mit¬ tag war, eine Zeit lang in der Ringstraße auf und nieder. Ich hatte die Stadt schon lange nicht mehr betreten, und fremd und kalt mutheten mich die stolzen Palastreihen an; fremd und kalt wie die Menschen, die heute stiller und weni¬ ger zahlreich als sonst an mir vorüber kamen.
die Sonne ſchon hoch. Es war ein prachtvoller Pfingſttag. Hell und blau ſpannte ſich der Himmel über den funkelnden Dächern aus und luſtig zwitſchernd ſchoſſen die Schwalben hin und her. In den Gaſſen herrſchte feierliche Stille; hier und dort traten ſchmuck gekleidete Frauen und Mädchen mit Gebetbüchern in der Hand aus den Häuſern, während wohl ein großer Theil der Bevölkerung ſchon mit dem Früheſten das Weichbild der Reſidenz hinter ſich gelaſſen und die grünen Fluren und Höhen, die rauſchenden Wälder der Umgegend aufgeſucht hatte. Auch ich nahm Hut und Stock und verließ das Haus. Die Aquarelle und Zeichnungen Genelli's waren eben zur öffentlichen Ausſtellung gelangt; ihnen wollt' ich den langen Vormittag widmen. Aber die Geſtalten und Intentio¬ nen des genialen Künſtlers, welcher ſo eigenthümlich nach Schönheit gerungen hatte, waren nicht im Stande, meinen Geiſt zu feſſeln. Das Bild Mariannens ſtieg beſtändig vor mir auf und verknüpfte ſich mit einer unſicheren Vorſtellung von ihrem Gatten, welchen kennen zu lernen ich eine geheime Scheu trug. So verließ ich, zerſtreut, wie ich gekommen, das Ausſtellungsgebäude und ſchritt, da es noch immer nicht Mit¬ tag war, eine Zeit lang in der Ringſtraße auf und nieder. Ich hatte die Stadt ſchon lange nicht mehr betreten, und fremd und kalt mutheten mich die ſtolzen Palaſtreihen an; fremd und kalt wie die Menſchen, die heute ſtiller und weni¬ ger zahlreich als ſonſt an mir vorüber kamen.
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die Sonne ſchon hoch. Es war ein prachtvoller Pfingſttag.
Hell und blau ſpannte ſich der Himmel über den funkelnden
Dächern aus und luſtig zwitſchernd ſchoſſen die Schwalben
hin und her. In den Gaſſen herrſchte feierliche Stille; hier
und dort traten ſchmuck gekleidete Frauen und Mädchen mit
Gebetbüchern in der Hand aus den Häuſern, während wohl
ein großer Theil der Bevölkerung ſchon mit dem Früheſten
das Weichbild der Reſidenz hinter ſich gelaſſen und die grünen
Fluren und Höhen, die rauſchenden Wälder der Umgegend
aufgeſucht hatte. Auch ich nahm Hut und Stock und verließ
das Haus. Die Aquarelle und Zeichnungen Genelli's waren
eben zur öffentlichen Ausſtellung gelangt; ihnen wollt' ich den
langen Vormittag widmen. Aber die Geſtalten und Intentio¬
nen des genialen Künſtlers, welcher ſo eigenthümlich nach
Schönheit gerungen hatte, waren nicht im Stande, meinen
Geiſt zu feſſeln. Das Bild Mariannens ſtieg beſtändig vor
mir auf und verknüpfte ſich mit einer unſicheren Vorſtellung
von ihrem Gatten, welchen kennen zu lernen ich eine geheime
Scheu trug. So verließ ich, zerſtreut, wie ich gekommen, das
Ausſtellungsgebäude und ſchritt, da es noch immer nicht Mit¬
tag war, eine Zeit lang in der Ringſtraße auf und nieder.
Ich hatte die Stadt ſchon lange nicht mehr betreten, und
fremd und kalt mutheten mich die ſtolzen Palaſtreihen an;
fremd und kalt wie die Menſchen, die heute ſtiller und weni¬
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Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/saar_novellen_1877/107>, abgerufen am 27.11.2024.
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