Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 3. Berlin u. a., 1831.

Bild:
<< vorherige Seite

nach der longobardischen Einwanderung, bis auf die carolin-
gischen, und viel spätern Zeiten. Was denn nun hätten die
Bewohner Italiens vom sechsten zum achten Jahrhunderte
aus der Baukunst des östlichen Reiches entlehnen sollen?
Das Technische? Keinesweges; denn, wie ich gezeigt habe,
beruhete dieses in beiden Bauschulen auf römischen Traditio-
nen, ist kein Grund vorhanden, bey den Italienern der go-
thischen und longobardischen Zeit eine gänzliche Ausrottung
römischer Baukunde anzunehmen, was zwar dem Ghiberti
und Vasari, doch unseren Zeitgenossen gewiß nicht zu verzeihen
wäre. Nun gar das Beyspiel, welches man dafür anführt!
Die Kirche S. Vitale zu Ravenna! *) Als wenn es nicht
längst erwiesen wäre, daß sie ein Werk der letzten gothischen
Regierung ist, welches Justinian nur musivisch ausgeziert, **)
und mit einer Vorhalle versehen hat.

Die römische Bauschule hatte unter den Gothen keine

*) S. d'Agincourt und andere.
**) S. Bacchini, ad Agnellum, vita S. Ecclesii, bey Muratori
script. To. II.
-- Hauptgründe: daß Procop. de aedif. Justiniani, sie
nicht anführe; daß die musivische Inschrift im Innern der Kirche nicht,
gleich der nachgewiesenen der Kirche S. Sergius und Bacchus, des
Baues, sondern nur der Weihgeschenke des Kaisers erwähne. Vergl.
den Text des Agnellus. Ein anderer, noch stärkerer Grund liegt in der
gezwungenen Anlage der Vorhalle, narthex, welche jedem Architec-
ten (bey d'Agincourt, Durand, mon. Rav. etc.) auffallen muß. Dieser
Raum ist, nach justinianischer Vorschrift, für die Büßenden bestimmt,
vielleicht in der westlichen Christenheit das einzige Beispiel seiner Art.
Unmittelbar nach der Eroberung mochte der Kaiser gehofft haben, sei-
nen liturgischen Anordnungen auch in Italien Eingang zu verschaffen.
Wäre die Vorhalle im ersten Plane des Gebäudes gelegen, so würde sie
demselben mehr symmetrisch sich anschließen. -- Uebrigens geht das
Gebäude ganz folgerecht aus italienischen Präcedenzen hervor.

nach der longobardiſchen Einwanderung, bis auf die carolin-
giſchen, und viel ſpaͤtern Zeiten. Was denn nun haͤtten die
Bewohner Italiens vom ſechſten zum achten Jahrhunderte
aus der Baukunſt des oͤſtlichen Reiches entlehnen ſollen?
Das Techniſche? Keinesweges; denn, wie ich gezeigt habe,
beruhete dieſes in beiden Bauſchulen auf roͤmiſchen Traditio-
nen, iſt kein Grund vorhanden, bey den Italienern der go-
thiſchen und longobardiſchen Zeit eine gaͤnzliche Ausrottung
roͤmiſcher Baukunde anzunehmen, was zwar dem Ghiberti
und Vaſari, doch unſeren Zeitgenoſſen gewiß nicht zu verzeihen
waͤre. Nun gar das Beyſpiel, welches man dafuͤr anfuͤhrt!
Die Kirche S. Vitale zu Ravenna! *) Als wenn es nicht
laͤngſt erwieſen waͤre, daß ſie ein Werk der letzten gothiſchen
Regierung iſt, welches Juſtinian nur muſiviſch ausgeziert, **)
und mit einer Vorhalle verſehen hat.

Die roͤmiſche Bauſchule hatte unter den Gothen keine

*) S. d’Agincourt und andere.
**) S. Bacchini, ad Agnellum, vita S. Ecclesii, bey Muratori
script. To. II.
— Hauptgründe: daß Procop. de aedif. Justiniani, ſie
nicht anführe; daß die muſiviſche Inſchrift im Innern der Kirche nicht,
gleich der nachgewieſenen der Kirche S. Sergius und Bacchus, des
Baues, ſondern nur der Weihgeſchenke des Kaiſers erwähne. Vergl.
den Text des Agnellus. Ein anderer, noch ſtärkerer Grund liegt in der
gezwungenen Anlage der Vorhalle, narthex, welche jedem Architec-
ten (bey d’Agincourt, Durand, mon. Rav. etc.) auffallen muß. Dieſer
Raum iſt, nach juſtinianiſcher Vorſchrift, für die Büßenden beſtimmt,
vielleicht in der weſtlichen Chriſtenheit das einzige Beiſpiel ſeiner Art.
Unmittelbar nach der Eroberung mochte der Kaiſer gehofft haben, ſei-
nen liturgiſchen Anordnungen auch in Italien Eingang zu verſchaffen.
Wäre die Vorhalle im erſten Plane des Gebäudes gelegen, ſo würde ſie
demſelben mehr ſymmetriſch ſich anſchließen. — Uebrigens geht das
Gebäude ganz folgerecht aus italieniſchen Präcedenzen hervor.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0222" n="200"/>
nach der <choice><sic>longobardi&#x017F;cheu</sic><corr>longobardi&#x017F;chen</corr></choice> Einwanderung, bis auf die carolin-<lb/>
gi&#x017F;chen, und viel &#x017F;pa&#x0364;tern Zeiten. Was denn nun ha&#x0364;tten die<lb/>
Bewohner <placeName>Italiens</placeName> vom &#x017F;ech&#x017F;ten zum achten Jahrhunderte<lb/>
aus der Baukun&#x017F;t des o&#x0364;&#x017F;tlichen Reiches entlehnen &#x017F;ollen?<lb/>
Das Techni&#x017F;che? Keinesweges; denn, wie ich gezeigt habe,<lb/>
beruhete die&#x017F;es in beiden Bau&#x017F;chulen auf ro&#x0364;mi&#x017F;chen Traditio-<lb/>
nen, i&#x017F;t kein Grund vorhanden, bey den Italienern der go-<lb/>
thi&#x017F;chen und longobardi&#x017F;chen Zeit eine ga&#x0364;nzliche Ausrottung<lb/>
ro&#x0364;mi&#x017F;cher Baukunde anzunehmen, was zwar dem <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118539086">Ghiberti</persName><lb/>
und <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118626213">Va&#x017F;ari</persName>, doch un&#x017F;eren Zeitgeno&#x017F;&#x017F;en gewiß nicht zu verzeihen<lb/>
wa&#x0364;re. Nun gar das Bey&#x017F;piel, welches man dafu&#x0364;r anfu&#x0364;hrt!<lb/>
Die Kirche S. Vitale zu <placeName>Ravenna</placeName>! <note place="foot" n="*)">S. d&#x2019;<persName ref="http://d-nb.info/gnd/117670901">Agincourt</persName> und andere.</note> Als wenn es nicht<lb/>
la&#x0364;ng&#x017F;t erwie&#x017F;en wa&#x0364;re, daß &#x017F;ie ein Werk der letzten gothi&#x017F;chen<lb/>
Regierung i&#x017F;t, welches <persName ref="http://d-nb.info/gnd/11855896X">Ju&#x017F;tinian</persName> nur mu&#x017F;ivi&#x017F;ch ausgeziert, <note place="foot" n="**)">S. <hi rendition="#aq"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/104119691">Bacchini</persName>, ad <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118647296">Agnellum</persName>, vita S. Ecclesii,</hi> bey <hi rendition="#aq"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/118844520">Muratori</persName><lb/>
script. To. II.</hi> &#x2014; Hauptgründe: daß <hi rendition="#aq"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/118741985">Procop.</persName> de aedif. <persName ref="http://d-nb.info/gnd/11855896X">Justiniani</persName>,</hi> &#x017F;ie<lb/>
nicht anführe; daß die mu&#x017F;ivi&#x017F;che In&#x017F;chrift im Innern der Kirche nicht,<lb/>
gleich der nachgewie&#x017F;enen der Kirche S. Sergius und Bacchus, des<lb/>
Baues, &#x017F;ondern nur der Weihge&#x017F;chenke des Kai&#x017F;ers erwähne. Vergl.<lb/>
den Text des <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118647296">Agnellus</persName>. Ein anderer, noch &#x017F;tärkerer Grund liegt in der<lb/><hi rendition="#g">gezwungenen</hi> Anlage der Vorhalle, <hi rendition="#aq">narthex,</hi> welche jedem Architec-<lb/>
ten (bey <hi rendition="#aq">d&#x2019;<persName ref="http://d-nb.info/gnd/117670901">Agincourt</persName>, <persName ref="nognd">Durand</persName>, mon. Rav. etc.)</hi> auffallen muß. Die&#x017F;er<lb/>
Raum i&#x017F;t, nach ju&#x017F;tiniani&#x017F;cher Vor&#x017F;chrift, für die Büßenden be&#x017F;timmt,<lb/>
vielleicht in der we&#x017F;tlichen Chri&#x017F;tenheit das einzige Bei&#x017F;piel &#x017F;einer Art.<lb/>
Unmittelbar nach der Eroberung mochte der Kai&#x017F;er gehofft haben, &#x017F;ei-<lb/>
nen liturgi&#x017F;chen Anordnungen auch in <placeName>Italien</placeName> Eingang zu ver&#x017F;chaffen.<lb/>
Wäre die Vorhalle im er&#x017F;ten Plane des Gebäudes gelegen, &#x017F;o würde &#x017F;ie<lb/>
dem&#x017F;elben mehr &#x017F;ymmetri&#x017F;ch &#x017F;ich an&#x017F;chließen. &#x2014; Uebrigens geht das<lb/>
Gebäude ganz folgerecht aus italieni&#x017F;chen Präcedenzen hervor.</note><lb/>
und mit einer Vorhalle ver&#x017F;ehen hat.</p><lb/>
          <p>Die ro&#x0364;mi&#x017F;che Bau&#x017F;chule hatte unter den Gothen keine<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[200/0222] nach der longobardiſchen Einwanderung, bis auf die carolin- giſchen, und viel ſpaͤtern Zeiten. Was denn nun haͤtten die Bewohner Italiens vom ſechſten zum achten Jahrhunderte aus der Baukunſt des oͤſtlichen Reiches entlehnen ſollen? Das Techniſche? Keinesweges; denn, wie ich gezeigt habe, beruhete dieſes in beiden Bauſchulen auf roͤmiſchen Traditio- nen, iſt kein Grund vorhanden, bey den Italienern der go- thiſchen und longobardiſchen Zeit eine gaͤnzliche Ausrottung roͤmiſcher Baukunde anzunehmen, was zwar dem Ghiberti und Vaſari, doch unſeren Zeitgenoſſen gewiß nicht zu verzeihen waͤre. Nun gar das Beyſpiel, welches man dafuͤr anfuͤhrt! Die Kirche S. Vitale zu Ravenna! *) Als wenn es nicht laͤngſt erwieſen waͤre, daß ſie ein Werk der letzten gothiſchen Regierung iſt, welches Juſtinian nur muſiviſch ausgeziert, **) und mit einer Vorhalle verſehen hat. Die roͤmiſche Bauſchule hatte unter den Gothen keine *) S. d’Agincourt und andere. **) S. Bacchini, ad Agnellum, vita S. Ecclesii, bey Muratori script. To. II. — Hauptgründe: daß Procop. de aedif. Justiniani, ſie nicht anführe; daß die muſiviſche Inſchrift im Innern der Kirche nicht, gleich der nachgewieſenen der Kirche S. Sergius und Bacchus, des Baues, ſondern nur der Weihgeſchenke des Kaiſers erwähne. Vergl. den Text des Agnellus. Ein anderer, noch ſtärkerer Grund liegt in der gezwungenen Anlage der Vorhalle, narthex, welche jedem Architec- ten (bey d’Agincourt, Durand, mon. Rav. etc.) auffallen muß. Dieſer Raum iſt, nach juſtinianiſcher Vorſchrift, für die Büßenden beſtimmt, vielleicht in der weſtlichen Chriſtenheit das einzige Beiſpiel ſeiner Art. Unmittelbar nach der Eroberung mochte der Kaiſer gehofft haben, ſei- nen liturgiſchen Anordnungen auch in Italien Eingang zu verſchaffen. Wäre die Vorhalle im erſten Plane des Gebäudes gelegen, ſo würde ſie demſelben mehr ſymmetriſch ſich anſchließen. — Uebrigens geht das Gebäude ganz folgerecht aus italieniſchen Präcedenzen hervor.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen03_1831
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen03_1831/222
Zitationshilfe: Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 3. Berlin u. a., 1831, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen03_1831/222>, abgerufen am 29.11.2024.