Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 2. Berlin u. a., 1827.

Bild:
<< vorherige Seite

Styl; besonders aber eine gänzliche Entfreyung von nur halb-
wahren, oder doch falsch angewendeten Theorieen.

Der bekannteste Scheinsatz des Federico Zuccaro, "daß die
Kunst der Natur gleichkomme, weil der menschliche Geist in
der Kunst auf ähnliche Weise, nach denselben Gesetzen wirke,
als die Natur," hat überall sich eingedrängt, nur zu oft den
Künstler mit einer trügerischen Zuversicht erfüllt, obwohl es
am Tage liegt, daß die Productionskraft des einzelnen Men-
schen, wie selbst des ganzen Geschlechtes, weil sie Erkenntniß
und Willen voraussetzt, nach ganz anderen Gesetzen sich bewege,
als die Natur, deren Erzeugungen nothwendig sind. Endlos
verwechselt man ferner die Offenbarung irgend eines Ursprüng-
lichen und Höheren, welches man in Kunstwerken wahrgenom-
men, oder nur wahrzunehmen geglaubt, mit den Formen, in
welchen der Künstler eben dieses Höhere ausdrückt. Glaubt man
ehrlich, daß Formen, an welchen wir nur mit Entsetzen selbst
die untergeordneten Organe des thierischen Lebens vermissen dürf-
ten, wirklich jenen höheren Regionen angehören, denen wir durch
Erinnerung, Ahndung und Sehnsucht verknüpft sind? Liegt es
nicht näher zur Hand, den Ausdruck jenes Hohen und Güti-
gen, welchem ein gebildeter und richtiger Sinn in Kunstwer-
ken zu begegnen wünscht, aus der inneren Bedeutsamkeit be-
stimmter natürlichen Gestaltungen abzuleiten, deren Formen
der Künstler entlehnt? Doch wirkte unter so vielen Gemein-
plätzen der neueren Kunstlehren keiner so nachtheilig auf die
Kunst zurück, als jene anspruchvolle Erklärung ihres Begriffes,
nach welcher die Kunst überhaupt nur da vorhanden wäre
wo sie dem Gegenstand nach ihr Höchstes hervorbringt.

Wir haben uns im Anbeginn dieser Untersuchungen da-

27 *

Styl; beſonders aber eine gaͤnzliche Entfreyung von nur halb-
wahren, oder doch falſch angewendeten Theorieen.

Der bekannteſte Scheinſatz des Federico Zuccaro, „daß die
Kunſt der Natur gleichkomme, weil der menſchliche Geiſt in
der Kunſt auf aͤhnliche Weiſe, nach denſelben Geſetzen wirke,
als die Natur,“ hat uͤberall ſich eingedraͤngt, nur zu oft den
Kuͤnſtler mit einer truͤgeriſchen Zuverſicht erfuͤllt, obwohl es
am Tage liegt, daß die Productionskraft des einzelnen Men-
ſchen, wie ſelbſt des ganzen Geſchlechtes, weil ſie Erkenntniß
und Willen vorausſetzt, nach ganz anderen Geſetzen ſich bewege,
als die Natur, deren Erzeugungen nothwendig ſind. Endlos
verwechſelt man ferner die Offenbarung irgend eines Urſpruͤng-
lichen und Hoͤheren, welches man in Kunſtwerken wahrgenom-
men, oder nur wahrzunehmen geglaubt, mit den Formen, in
welchen der Kuͤnſtler eben dieſes Hoͤhere ausdruͤckt. Glaubt man
ehrlich, daß Formen, an welchen wir nur mit Entſetzen ſelbſt
die untergeordneten Organe des thieriſchen Lebens vermiſſen duͤrf-
ten, wirklich jenen hoͤheren Regionen angehoͤren, denen wir durch
Erinnerung, Ahndung und Sehnſucht verknuͤpft ſind? Liegt es
nicht naͤher zur Hand, den Ausdruck jenes Hohen und Guͤti-
gen, welchem ein gebildeter und richtiger Sinn in Kunſtwer-
ken zu begegnen wuͤnſcht, aus der inneren Bedeutſamkeit be-
ſtimmter natuͤrlichen Geſtaltungen abzuleiten, deren Formen
der Kuͤnſtler entlehnt? Doch wirkte unter ſo vielen Gemein-
plaͤtzen der neueren Kunſtlehren keiner ſo nachtheilig auf die
Kunſt zuruͤck, als jene anſpruchvolle Erklaͤrung ihres Begriffes,
nach welcher die Kunſt uͤberhaupt nur da vorhanden waͤre
wo ſie dem Gegenſtand nach ihr Hoͤchſtes hervorbringt.

Wir haben uns im Anbeginn dieſer Unterſuchungen da-

27 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0437" n="419"/>
Styl; be&#x017F;onders aber eine ga&#x0364;nzliche Entfreyung von nur halb-<lb/>
wahren, oder doch fal&#x017F;ch angewendeten Theorieen.</p><lb/>
          <p>Der bekannte&#x017F;te Schein&#x017F;atz des <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118912860">Federico Zuccaro</persName>, &#x201E;daß die<lb/>
Kun&#x017F;t der Natur gleichkomme, weil der men&#x017F;chliche Gei&#x017F;t in<lb/>
der Kun&#x017F;t auf a&#x0364;hnliche Wei&#x017F;e, nach den&#x017F;elben Ge&#x017F;etzen wirke,<lb/>
als die Natur,&#x201C; hat u&#x0364;berall &#x017F;ich eingedra&#x0364;ngt, nur zu oft den<lb/>
Ku&#x0364;n&#x017F;tler mit einer tru&#x0364;geri&#x017F;chen Zuver&#x017F;icht erfu&#x0364;llt, obwohl es<lb/>
am Tage liegt, daß die Productionskraft des einzelnen Men-<lb/>
&#x017F;chen, wie &#x017F;elb&#x017F;t des ganzen Ge&#x017F;chlechtes, weil &#x017F;ie Erkenntniß<lb/>
und Willen voraus&#x017F;etzt, nach ganz anderen Ge&#x017F;etzen &#x017F;ich bewege,<lb/>
als die Natur, deren Erzeugungen nothwendig &#x017F;ind. Endlos<lb/>
verwech&#x017F;elt man ferner die Offenbarung irgend eines Ur&#x017F;pru&#x0364;ng-<lb/>
lichen und Ho&#x0364;heren, welches man in Kun&#x017F;twerken wahrgenom-<lb/>
men, oder nur wahrzunehmen geglaubt, mit den Formen, in<lb/>
welchen der Ku&#x0364;n&#x017F;tler eben die&#x017F;es Ho&#x0364;here ausdru&#x0364;ckt. Glaubt man<lb/>
ehrlich, daß Formen, an welchen wir nur mit Ent&#x017F;etzen &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
die untergeordneten Organe des thieri&#x017F;chen Lebens vermi&#x017F;&#x017F;en du&#x0364;rf-<lb/>
ten, wirklich jenen ho&#x0364;heren Regionen angeho&#x0364;ren, denen wir durch<lb/>
Erinnerung, Ahndung und Sehn&#x017F;ucht verknu&#x0364;pft &#x017F;ind? Liegt es<lb/>
nicht na&#x0364;her zur Hand, den Ausdruck jenes Hohen und Gu&#x0364;ti-<lb/>
gen, welchem ein gebildeter und richtiger Sinn in Kun&#x017F;twer-<lb/>
ken zu begegnen wu&#x0364;n&#x017F;cht, aus der inneren Bedeut&#x017F;amkeit be-<lb/>
&#x017F;timmter natu&#x0364;rlichen Ge&#x017F;taltungen abzuleiten, deren Formen<lb/>
der Ku&#x0364;n&#x017F;tler entlehnt? Doch wirkte unter &#x017F;o vielen Gemein-<lb/>
pla&#x0364;tzen der neueren Kun&#x017F;tlehren keiner &#x017F;o nachtheilig auf die<lb/>
Kun&#x017F;t zuru&#x0364;ck, als jene an&#x017F;pruchvolle Erkla&#x0364;rung ihres Begriffes,<lb/>
nach welcher die Kun&#x017F;t u&#x0364;berhaupt nur da vorhanden wa&#x0364;re<lb/>
wo &#x017F;ie dem Gegen&#x017F;tand nach ihr Ho&#x0364;ch&#x017F;tes hervorbringt.</p><lb/>
          <p>Wir haben uns im Anbeginn die&#x017F;er Unter&#x017F;uchungen da-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">27 *</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[419/0437] Styl; beſonders aber eine gaͤnzliche Entfreyung von nur halb- wahren, oder doch falſch angewendeten Theorieen. Der bekannteſte Scheinſatz des Federico Zuccaro, „daß die Kunſt der Natur gleichkomme, weil der menſchliche Geiſt in der Kunſt auf aͤhnliche Weiſe, nach denſelben Geſetzen wirke, als die Natur,“ hat uͤberall ſich eingedraͤngt, nur zu oft den Kuͤnſtler mit einer truͤgeriſchen Zuverſicht erfuͤllt, obwohl es am Tage liegt, daß die Productionskraft des einzelnen Men- ſchen, wie ſelbſt des ganzen Geſchlechtes, weil ſie Erkenntniß und Willen vorausſetzt, nach ganz anderen Geſetzen ſich bewege, als die Natur, deren Erzeugungen nothwendig ſind. Endlos verwechſelt man ferner die Offenbarung irgend eines Urſpruͤng- lichen und Hoͤheren, welches man in Kunſtwerken wahrgenom- men, oder nur wahrzunehmen geglaubt, mit den Formen, in welchen der Kuͤnſtler eben dieſes Hoͤhere ausdruͤckt. Glaubt man ehrlich, daß Formen, an welchen wir nur mit Entſetzen ſelbſt die untergeordneten Organe des thieriſchen Lebens vermiſſen duͤrf- ten, wirklich jenen hoͤheren Regionen angehoͤren, denen wir durch Erinnerung, Ahndung und Sehnſucht verknuͤpft ſind? Liegt es nicht naͤher zur Hand, den Ausdruck jenes Hohen und Guͤti- gen, welchem ein gebildeter und richtiger Sinn in Kunſtwer- ken zu begegnen wuͤnſcht, aus der inneren Bedeutſamkeit be- ſtimmter natuͤrlichen Geſtaltungen abzuleiten, deren Formen der Kuͤnſtler entlehnt? Doch wirkte unter ſo vielen Gemein- plaͤtzen der neueren Kunſtlehren keiner ſo nachtheilig auf die Kunſt zuruͤck, als jene anſpruchvolle Erklaͤrung ihres Begriffes, nach welcher die Kunſt uͤberhaupt nur da vorhanden waͤre wo ſie dem Gegenſtand nach ihr Hoͤchſtes hervorbringt. Wir haben uns im Anbeginn dieſer Unterſuchungen da- 27 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen02_1827
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen02_1827/437
Zitationshilfe: Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 2. Berlin u. a., 1827, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen02_1827/437>, abgerufen am 03.05.2024.