des sechzehnten Jahrhundertes überhandnehmende Vernachläs- sigung in der Aneignung der darstellenden Formen zu erklären haben; aus anderen wiederum die zugleich eingetretene Ver- wilderung der Manier, oder Handhabung der Werkzeuge.
Jene bald nach dem Ableben Raphaels sich meldende Verschlossenheit des Sinnes für die unendliche Schönheit, für die tiefe Bedeutung der Gestalten, welche die Natur in ihrer unerschöpflichen Verjüngung aus sich selbst hervorbringt, für den unbeschreiblichen Reiz, welcher deren Erscheinung begleitet, ist sicher keine ursprünglich künstlerische Krankheit, da eine ge- steigerte Empfänglichkeit für diese Schönheiten eben dasjenige ist, was den Künstler zum Künstler macht und seine Geistes- anlage von anderen gleich ehrenwerthen, doch entgegengesetzten unterscheidet.
Der Künstler ist von Haus aus geneigt, mit Entzücken zu sehen und durch sinnliche Anschauung von Formen, deren Ver- ständniß ihm näher liegt, als der Menge, sich höchlich zu be- geistern. Hingegen gelangt man auf dem entgegengesetzten Geisteswege gar leicht dahin, die Abstracta: Sinnliches, Ma- terielles und ähnliche, auf die wirkliche, lebendige Welt zu übertragen und die letzte, gleichsam als die hassenswerthe Stellvertreterin jener negativen, jeglichem Leben entgegenge- setzten Begriffe mit Geringschätzung anzusehn. Diese Verblen- dung hatte den Künstlern von Außen her sich aufgedrängt, ihrer Trägheit und Eitelkeit sich eingeschmeichelt, wie es aus vielfältigen Zeichen erhellt, welche ich übergehe, da ich schon in der ersten Abhandlung darauf hingedeutet habe. Doch kann ich nicht wohl umhin, in Erinnerung zu bringen, daß ich dort dem Raphael wahrscheinlich zu nahe getreten bin, da mir bey wiederholter Durchlesung seines Briefes immer mehr
des ſechzehnten Jahrhundertes uͤberhandnehmende Vernachlaͤſ- ſigung in der Aneignung der darſtellenden Formen zu erklaͤren haben; aus anderen wiederum die zugleich eingetretene Ver- wilderung der Manier, oder Handhabung der Werkzeuge.
Jene bald nach dem Ableben Raphaels ſich meldende Verſchloſſenheit des Sinnes fuͤr die unendliche Schoͤnheit, fuͤr die tiefe Bedeutung der Geſtalten, welche die Natur in ihrer unerſchoͤpflichen Verjuͤngung aus ſich ſelbſt hervorbringt, fuͤr den unbeſchreiblichen Reiz, welcher deren Erſcheinung begleitet, iſt ſicher keine urſpruͤnglich kuͤnſtleriſche Krankheit, da eine ge- ſteigerte Empfaͤnglichkeit fuͤr dieſe Schoͤnheiten eben dasjenige iſt, was den Kuͤnſtler zum Kuͤnſtler macht und ſeine Geiſtes- anlage von anderen gleich ehrenwerthen, doch entgegengeſetzten unterſcheidet.
Der Kuͤnſtler iſt von Haus aus geneigt, mit Entzuͤcken zu ſehen und durch ſinnliche Anſchauung von Formen, deren Ver- ſtaͤndniß ihm naͤher liegt, als der Menge, ſich hoͤchlich zu be- geiſtern. Hingegen gelangt man auf dem entgegengeſetzten Geiſteswege gar leicht dahin, die Abſtracta: Sinnliches, Ma- terielles und aͤhnliche, auf die wirkliche, lebendige Welt zu uͤbertragen und die letzte, gleichſam als die haſſenswerthe Stellvertreterin jener negativen, jeglichem Leben entgegenge- ſetzten Begriffe mit Geringſchaͤtzung anzuſehn. Dieſe Verblen- dung hatte den Kuͤnſtlern von Außen her ſich aufgedraͤngt, ihrer Traͤgheit und Eitelkeit ſich eingeſchmeichelt, wie es aus vielfaͤltigen Zeichen erhellt, welche ich uͤbergehe, da ich ſchon in der erſten Abhandlung darauf hingedeutet habe. Doch kann ich nicht wohl umhin, in Erinnerung zu bringen, daß ich dort dem Raphael wahrſcheinlich zu nahe getreten bin, da mir bey wiederholter Durchleſung ſeines Briefes immer mehr
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des ſechzehnten Jahrhundertes uͤberhandnehmende Vernachlaͤſ-
ſigung in der Aneignung der darſtellenden Formen zu erklaͤren
haben; aus anderen wiederum die zugleich eingetretene Ver-
wilderung der Manier, oder Handhabung der Werkzeuge.
Jene bald nach dem Ableben Raphaels ſich meldende
Verſchloſſenheit des Sinnes fuͤr die unendliche Schoͤnheit, fuͤr
die tiefe Bedeutung der Geſtalten, welche die Natur in ihrer
unerſchoͤpflichen Verjuͤngung aus ſich ſelbſt hervorbringt, fuͤr
den unbeſchreiblichen Reiz, welcher deren Erſcheinung begleitet,
iſt ſicher keine urſpruͤnglich kuͤnſtleriſche Krankheit, da eine ge-
ſteigerte Empfaͤnglichkeit fuͤr dieſe Schoͤnheiten eben dasjenige
iſt, was den Kuͤnſtler zum Kuͤnſtler macht und ſeine Geiſtes-
anlage von anderen gleich ehrenwerthen, doch entgegengeſetzten
unterſcheidet.
Der Kuͤnſtler iſt von Haus aus geneigt, mit Entzuͤcken zu
ſehen und durch ſinnliche Anſchauung von Formen, deren Ver-
ſtaͤndniß ihm naͤher liegt, als der Menge, ſich hoͤchlich zu be-
geiſtern. Hingegen gelangt man auf dem entgegengeſetzten
Geiſteswege gar leicht dahin, die Abſtracta: Sinnliches, Ma-
terielles und aͤhnliche, auf die wirkliche, lebendige Welt zu
uͤbertragen und die letzte, gleichſam als die haſſenswerthe
Stellvertreterin jener negativen, jeglichem Leben entgegenge-
ſetzten Begriffe mit Geringſchaͤtzung anzuſehn. Dieſe Verblen-
dung hatte den Kuͤnſtlern von Außen her ſich aufgedraͤngt,
ihrer Traͤgheit und Eitelkeit ſich eingeſchmeichelt, wie es aus
vielfaͤltigen Zeichen erhellt, welche ich uͤbergehe, da ich ſchon
in der erſten Abhandlung darauf hingedeutet habe. Doch
kann ich nicht wohl umhin, in Erinnerung zu bringen, daß
ich dort dem Raphael wahrſcheinlich zu nahe getreten bin, da
mir bey wiederholter Durchleſung ſeines Briefes immer mehr
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Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 2. Berlin u. a., 1827, S. 413. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen02_1827/431>, abgerufen am 26.11.2024.
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