Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 2. Berlin u. a., 1827.

Bild:
<< vorherige Seite

des sechzehnten Jahrhundertes überhandnehmende Vernachläs-
sigung in der Aneignung der darstellenden Formen zu erklären
haben; aus anderen wiederum die zugleich eingetretene Ver-
wilderung der Manier, oder Handhabung der Werkzeuge.

Jene bald nach dem Ableben Raphaels sich meldende
Verschlossenheit des Sinnes für die unendliche Schönheit, für
die tiefe Bedeutung der Gestalten, welche die Natur in ihrer
unerschöpflichen Verjüngung aus sich selbst hervorbringt, für
den unbeschreiblichen Reiz, welcher deren Erscheinung begleitet,
ist sicher keine ursprünglich künstlerische Krankheit, da eine ge-
steigerte Empfänglichkeit für diese Schönheiten eben dasjenige
ist, was den Künstler zum Künstler macht und seine Geistes-
anlage von anderen gleich ehrenwerthen, doch entgegengesetzten
unterscheidet.

Der Künstler ist von Haus aus geneigt, mit Entzücken zu
sehen und durch sinnliche Anschauung von Formen, deren Ver-
ständniß ihm näher liegt, als der Menge, sich höchlich zu be-
geistern. Hingegen gelangt man auf dem entgegengesetzten
Geisteswege gar leicht dahin, die Abstracta: Sinnliches, Ma-
terielles und ähnliche, auf die wirkliche, lebendige Welt zu
übertragen und die letzte, gleichsam als die hassenswerthe
Stellvertreterin jener negativen, jeglichem Leben entgegenge-
setzten Begriffe mit Geringschätzung anzusehn. Diese Verblen-
dung hatte den Künstlern von Außen her sich aufgedrängt,
ihrer Trägheit und Eitelkeit sich eingeschmeichelt, wie es aus
vielfältigen Zeichen erhellt, welche ich übergehe, da ich schon
in der ersten Abhandlung darauf hingedeutet habe. Doch
kann ich nicht wohl umhin, in Erinnerung zu bringen, daß
ich dort dem Raphael wahrscheinlich zu nahe getreten bin, da
mir bey wiederholter Durchlesung seines Briefes immer mehr

des ſechzehnten Jahrhundertes uͤberhandnehmende Vernachlaͤſ-
ſigung in der Aneignung der darſtellenden Formen zu erklaͤren
haben; aus anderen wiederum die zugleich eingetretene Ver-
wilderung der Manier, oder Handhabung der Werkzeuge.

Jene bald nach dem Ableben Raphaels ſich meldende
Verſchloſſenheit des Sinnes fuͤr die unendliche Schoͤnheit, fuͤr
die tiefe Bedeutung der Geſtalten, welche die Natur in ihrer
unerſchoͤpflichen Verjuͤngung aus ſich ſelbſt hervorbringt, fuͤr
den unbeſchreiblichen Reiz, welcher deren Erſcheinung begleitet,
iſt ſicher keine urſpruͤnglich kuͤnſtleriſche Krankheit, da eine ge-
ſteigerte Empfaͤnglichkeit fuͤr dieſe Schoͤnheiten eben dasjenige
iſt, was den Kuͤnſtler zum Kuͤnſtler macht und ſeine Geiſtes-
anlage von anderen gleich ehrenwerthen, doch entgegengeſetzten
unterſcheidet.

Der Kuͤnſtler iſt von Haus aus geneigt, mit Entzuͤcken zu
ſehen und durch ſinnliche Anſchauung von Formen, deren Ver-
ſtaͤndniß ihm naͤher liegt, als der Menge, ſich hoͤchlich zu be-
geiſtern. Hingegen gelangt man auf dem entgegengeſetzten
Geiſteswege gar leicht dahin, die Abſtracta: Sinnliches, Ma-
terielles und aͤhnliche, auf die wirkliche, lebendige Welt zu
uͤbertragen und die letzte, gleichſam als die haſſenswerthe
Stellvertreterin jener negativen, jeglichem Leben entgegenge-
ſetzten Begriffe mit Geringſchaͤtzung anzuſehn. Dieſe Verblen-
dung hatte den Kuͤnſtlern von Außen her ſich aufgedraͤngt,
ihrer Traͤgheit und Eitelkeit ſich eingeſchmeichelt, wie es aus
vielfaͤltigen Zeichen erhellt, welche ich uͤbergehe, da ich ſchon
in der erſten Abhandlung darauf hingedeutet habe. Doch
kann ich nicht wohl umhin, in Erinnerung zu bringen, daß
ich dort dem Raphael wahrſcheinlich zu nahe getreten bin, da
mir bey wiederholter Durchleſung ſeines Briefes immer mehr

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0431" n="413"/>
des &#x017F;echzehnten Jahrhundertes u&#x0364;berhandnehmende Vernachla&#x0364;&#x017F;-<lb/>
&#x017F;igung in der Aneignung der dar&#x017F;tellenden Formen zu erkla&#x0364;ren<lb/>
haben; aus anderen wiederum die zugleich eingetretene Ver-<lb/>
wilderung der Manier, oder Handhabung der Werkzeuge.</p><lb/>
          <p>Jene bald nach dem Ableben <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118597787">Raphaels</persName> &#x017F;ich meldende<lb/>
Ver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enheit des Sinnes fu&#x0364;r die unendliche Scho&#x0364;nheit, fu&#x0364;r<lb/>
die tiefe Bedeutung der Ge&#x017F;talten, welche die Natur in ihrer<lb/>
uner&#x017F;cho&#x0364;pflichen Verju&#x0364;ngung aus &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t hervorbringt, fu&#x0364;r<lb/>
den unbe&#x017F;chreiblichen Reiz, welcher deren Er&#x017F;cheinung begleitet,<lb/>
i&#x017F;t &#x017F;icher keine ur&#x017F;pru&#x0364;nglich ku&#x0364;n&#x017F;tleri&#x017F;che Krankheit, da eine ge-<lb/>
&#x017F;teigerte Empfa&#x0364;nglichkeit fu&#x0364;r die&#x017F;e Scho&#x0364;nheiten eben dasjenige<lb/>
i&#x017F;t, was den Ku&#x0364;n&#x017F;tler zum Ku&#x0364;n&#x017F;tler macht und &#x017F;eine Gei&#x017F;tes-<lb/>
anlage von anderen gleich ehrenwerthen, doch entgegenge&#x017F;etzten<lb/>
unter&#x017F;cheidet.</p><lb/>
          <p>Der Ku&#x0364;n&#x017F;tler i&#x017F;t von Haus aus geneigt, mit Entzu&#x0364;cken zu<lb/>
&#x017F;ehen und durch &#x017F;innliche An&#x017F;chauung von Formen, deren Ver-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;ndniß ihm na&#x0364;her liegt, als der Menge, &#x017F;ich ho&#x0364;chlich zu be-<lb/>
gei&#x017F;tern. Hingegen gelangt man auf dem entgegenge&#x017F;etzten<lb/>
Gei&#x017F;teswege gar leicht dahin, die Ab&#x017F;tracta: Sinnliches, Ma-<lb/>
terielles und a&#x0364;hnliche, auf die wirkliche, lebendige Welt zu<lb/>
u&#x0364;bertragen und die letzte, gleich&#x017F;am als die ha&#x017F;&#x017F;enswerthe<lb/>
Stellvertreterin jener negativen, jeglichem Leben entgegenge-<lb/>
&#x017F;etzten Begriffe mit Gering&#x017F;cha&#x0364;tzung anzu&#x017F;ehn. Die&#x017F;e Verblen-<lb/>
dung hatte den Ku&#x0364;n&#x017F;tlern von Außen her &#x017F;ich aufgedra&#x0364;ngt,<lb/>
ihrer Tra&#x0364;gheit und Eitelkeit &#x017F;ich einge&#x017F;chmeichelt, wie es aus<lb/>
vielfa&#x0364;ltigen Zeichen erhellt, welche ich u&#x0364;bergehe, da ich &#x017F;chon<lb/>
in der er&#x017F;ten Abhandlung darauf hingedeutet habe. Doch<lb/>
kann ich nicht wohl umhin, in Erinnerung zu bringen, daß<lb/>
ich dort dem <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118597787">Raphael</persName> wahr&#x017F;cheinlich zu nahe getreten bin, da<lb/>
mir bey wiederholter Durchle&#x017F;ung &#x017F;eines Briefes immer mehr<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[413/0431] des ſechzehnten Jahrhundertes uͤberhandnehmende Vernachlaͤſ- ſigung in der Aneignung der darſtellenden Formen zu erklaͤren haben; aus anderen wiederum die zugleich eingetretene Ver- wilderung der Manier, oder Handhabung der Werkzeuge. Jene bald nach dem Ableben Raphaels ſich meldende Verſchloſſenheit des Sinnes fuͤr die unendliche Schoͤnheit, fuͤr die tiefe Bedeutung der Geſtalten, welche die Natur in ihrer unerſchoͤpflichen Verjuͤngung aus ſich ſelbſt hervorbringt, fuͤr den unbeſchreiblichen Reiz, welcher deren Erſcheinung begleitet, iſt ſicher keine urſpruͤnglich kuͤnſtleriſche Krankheit, da eine ge- ſteigerte Empfaͤnglichkeit fuͤr dieſe Schoͤnheiten eben dasjenige iſt, was den Kuͤnſtler zum Kuͤnſtler macht und ſeine Geiſtes- anlage von anderen gleich ehrenwerthen, doch entgegengeſetzten unterſcheidet. Der Kuͤnſtler iſt von Haus aus geneigt, mit Entzuͤcken zu ſehen und durch ſinnliche Anſchauung von Formen, deren Ver- ſtaͤndniß ihm naͤher liegt, als der Menge, ſich hoͤchlich zu be- geiſtern. Hingegen gelangt man auf dem entgegengeſetzten Geiſteswege gar leicht dahin, die Abſtracta: Sinnliches, Ma- terielles und aͤhnliche, auf die wirkliche, lebendige Welt zu uͤbertragen und die letzte, gleichſam als die haſſenswerthe Stellvertreterin jener negativen, jeglichem Leben entgegenge- ſetzten Begriffe mit Geringſchaͤtzung anzuſehn. Dieſe Verblen- dung hatte den Kuͤnſtlern von Außen her ſich aufgedraͤngt, ihrer Traͤgheit und Eitelkeit ſich eingeſchmeichelt, wie es aus vielfaͤltigen Zeichen erhellt, welche ich uͤbergehe, da ich ſchon in der erſten Abhandlung darauf hingedeutet habe. Doch kann ich nicht wohl umhin, in Erinnerung zu bringen, daß ich dort dem Raphael wahrſcheinlich zu nahe getreten bin, da mir bey wiederholter Durchleſung ſeines Briefes immer mehr

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen02_1827
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen02_1827/431
Zitationshilfe: Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 2. Berlin u. a., 1827, S. 413. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen02_1827/431>, abgerufen am 26.11.2024.