Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 5. Leipzig, 1839.Kann solche Unnatur in der Natur auch seyn? Trägst du, o Mensch, sie nur in die Natur hinein? Der lautern Fantasie ist sie die Mutter mild, Und der verstörten das verzerrte Schlangenbild. 45. Es kam ein Wanderer durch einen öden Raum An einen grünen Fleck, da stand ein schöner Baum. Und an des Baumes Fuß ergoß sich eine Quelle, Und eine Blume sah sich in der klaren Welle. Auch auf dem Baume saß ein Vogel hoch und sang: Der Wandrer ruhte froh sich aus von seinem Gang. Und sprach: wie Schad' um euch, daß ihr hier beide singt Und blüht, wo keinem Aug' und Ohre Lust es bringt. Da sprach die Gottheit, die im Baume wohnte, leise: O Wandrer, den zu mir geführet hat die Reise! Sie blühen nicht umsonst, sie blühn und singen mir, Und weil du bei mir ruhst, blühn sie und singen dir. Kann ſolche Unnatur in der Natur auch ſeyn? Traͤgſt du, o Menſch, ſie nur in die Natur hinein? Der lautern Fantaſie iſt ſie die Mutter mild, Und der verſtoͤrten das verzerrte Schlangenbild. 45. Es kam ein Wanderer durch einen oͤden Raum An einen gruͤnen Fleck, da ſtand ein ſchoͤner Baum. Und an des Baumes Fuß ergoß ſich eine Quelle, Und eine Blume ſah ſich in der klaren Welle. Auch auf dem Baume ſaß ein Vogel hoch und ſang: Der Wandrer ruhte froh ſich aus von ſeinem Gang. Und ſprach: wie Schad' um euch, daß ihr hier beide ſingt Und bluͤht, wo keinem Aug' und Ohre Luſt es bringt. Da ſprach die Gottheit, die im Baume wohnte, leiſe: O Wandrer, den zu mir gefuͤhret hat die Reiſe! Sie bluͤhen nicht umſonſt, ſie bluͤhn und ſingen mir, Und weil du bei mir ruhſt, bluͤhn ſie und ſingen dir. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0054" n="44"/> <lg n="8"> <l>Kann ſolche Unnatur in der Natur auch ſeyn?</l><lb/> <l>Traͤgſt du, o Menſch, ſie nur in die Natur hinein?</l> </lg><lb/> <lg n="9"> <l>Der lautern Fantaſie iſt ſie die Mutter mild,</l><lb/> <l>Und der verſtoͤrten das verzerrte Schlangenbild.</l> </lg><lb/> </lg> </div> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <div n="2"> <head>45.</head><lb/> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>Es kam ein Wanderer durch einen oͤden Raum</l><lb/> <l>An einen gruͤnen Fleck, da ſtand ein ſchoͤner Baum.</l> </lg><lb/> <lg n="2"> <l>Und an des Baumes Fuß ergoß ſich eine Quelle,</l><lb/> <l>Und eine Blume ſah ſich in der klaren Welle.</l> </lg><lb/> <lg n="3"> <l>Auch auf dem Baume ſaß ein Vogel hoch und ſang:</l><lb/> <l>Der Wandrer ruhte froh ſich aus von ſeinem Gang.</l> </lg><lb/> <lg n="4"> <l>Und ſprach: wie Schad' um euch, daß ihr hier beide ſingt</l><lb/> <l>Und bluͤht, wo keinem Aug' und Ohre Luſt es bringt.</l> </lg><lb/> <lg n="5"> <l>Da ſprach die Gottheit, die im Baume wohnte, leiſe:</l><lb/> <l>O Wandrer, den zu mir gefuͤhret hat die Reiſe!</l> </lg><lb/> <lg n="6"> <l>Sie bluͤhen nicht umſonſt, ſie bluͤhn und ſingen mir,</l><lb/> <l>Und weil du bei mir ruhſt, bluͤhn ſie und ſingen dir.</l> </lg><lb/> </lg> </div> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> </body> </text> </TEI> [44/0054]
Kann ſolche Unnatur in der Natur auch ſeyn?
Traͤgſt du, o Menſch, ſie nur in die Natur hinein?
Der lautern Fantaſie iſt ſie die Mutter mild,
Und der verſtoͤrten das verzerrte Schlangenbild.
45.
Es kam ein Wanderer durch einen oͤden Raum
An einen gruͤnen Fleck, da ſtand ein ſchoͤner Baum.
Und an des Baumes Fuß ergoß ſich eine Quelle,
Und eine Blume ſah ſich in der klaren Welle.
Auch auf dem Baume ſaß ein Vogel hoch und ſang:
Der Wandrer ruhte froh ſich aus von ſeinem Gang.
Und ſprach: wie Schad' um euch, daß ihr hier beide ſingt
Und bluͤht, wo keinem Aug' und Ohre Luſt es bringt.
Da ſprach die Gottheit, die im Baume wohnte, leiſe:
O Wandrer, den zu mir gefuͤhret hat die Reiſe!
Sie bluͤhen nicht umſonſt, ſie bluͤhn und ſingen mir,
Und weil du bei mir ruhſt, bluͤhn ſie und ſingen dir.
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