Wann wird nun die Mama mich lieb haben können? sagte sie neulich, als sie sich eben bei mir allein sah. Sie ist so hold gegen jeden, und nur gegen mich war sie kalt. Bin ich denn noch so gar schlecht? Nein, mein Kind, das bist du nicht; aber dein Ton ist noch oft rauh und hart, und da glaubt man, so sey auch dein Gemüth. Oft scheint es auch mir (aber nur auf Augenblicke), du lieb- test keinen Menschen. Und das kann mich sehr betrüben; denn ohne Liebe ist keine Güte.
Mathilde. Ach! Tante, in solchen Augen- blicken liebe ich mich selbst am wenigsten; da könnt' ich mich oft selbst schlagen, daß ich so bin.
Jch. Nun sah dich die Mama gerade so: wie konnte sie dich denn lieben? Werde Herr über deine rauhe Art zu seyn, über deine unempfind- lich scheinende Härte, und man wird dich doppelt lieben. Lieben wird man dich um der Milde dei- nes erworbenen Charakters, und lieben wird man dich um der Kraft willen, mit der du ihn errun- gen. Wenn Kraft zur Milde geworden, so ist nichts liebenswürdiger als sie. Das laß dich trö- sten, mein liebes Herz.
Wann wird nun die Mama mich lieb haben können? ſagte ſie neulich, als ſie ſich eben bei mir allein ſah. Sie iſt ſo hold gegen jeden, und nur gegen mich war ſie kalt. Bin ich denn noch ſo gar ſchlecht? Nein, mein Kind, das biſt du nicht; aber dein Ton iſt noch oft rauh und hart, und da glaubt man, ſo ſey auch dein Gemüth. Oft ſcheint es auch mir (aber nur auf Augenblicke), du lieb- teſt keinen Menſchen. Und das kann mich ſehr betrüben; denn ohne Liebe iſt keine Güte.
Mathilde. Ach! Tante, in ſolchen Augen- blicken liebe ich mich ſelbſt am wenigſten; da könnt’ ich mich oft ſelbſt ſchlagen, daß ich ſo bin.
Jch. Nun ſah dich die Mama gerade ſo: wie konnte ſie dich denn lieben? Werde Herr über deine rauhe Art zu ſeyn, über deine unempfind- lich ſcheinende Härte, und man wird dich doppelt lieben. Lieben wird man dich um der Milde dei- nes erworbenen Charakters, und lieben wird man dich um der Kraft willen, mit der du ihn errun- gen. Wenn Kraft zur Milde geworden, ſo iſt nichts liebenswürdiger als ſie. Das laß dich trö- ſten, mein liebes Herz.
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Wann wird nun die Mama mich lieb haben
können? ſagte ſie neulich, als ſie ſich eben bei mir
allein ſah. Sie iſt ſo hold gegen jeden, und nur
gegen mich war ſie kalt. Bin ich denn noch ſo
gar ſchlecht? Nein, mein Kind, das biſt du nicht;
aber dein Ton iſt noch oft rauh und hart, und da
glaubt man, ſo ſey auch dein Gemüth. Oft ſcheint
es auch mir (aber nur auf Augenblicke), du lieb-
teſt keinen Menſchen. Und das kann mich ſehr
betrüben; denn ohne Liebe iſt keine Güte.
Mathilde. Ach! Tante, in ſolchen Augen-
blicken liebe ich mich ſelbſt am wenigſten; da
könnt’ ich mich oft ſelbſt ſchlagen, daß ich ſo bin.
Jch. Nun ſah dich die Mama gerade ſo: wie
konnte ſie dich denn lieben? Werde Herr über
deine rauhe Art zu ſeyn, über deine unempfind-
lich ſcheinende Härte, und man wird dich doppelt
lieben. Lieben wird man dich um der Milde dei-
nes erworbenen Charakters, und lieben wird man
dich um der Kraft willen, mit der du ihn errun-
gen. Wenn Kraft zur Milde geworden, ſo iſt
nichts liebenswürdiger als ſie. Das laß dich trö-
ſten, mein liebes Herz.
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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/44>, abgerufen am 28.01.2025.
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