Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.staunte den hohen Jüngling fast mit Ehrerbietung an. Seit der Zeit seines Hierseyns scheinen beide nur für einander zu leben. Tante, beste Tante, was hast Du mir für eine Schwester gebildet, sag- te er diesen Morgen mit trunkener Freude. Solch ein Herz voll himmlischer Liebe fand ich nirgends -- außer bei noch einer -- er stockte, und ein schönes Roth überflog sein reines Angesicht. Platov ist sehr still und zurückhaltend gegen Jda. Wenn ich es nicht anders wüßte, könnte ich es eine feind- selige Entfernung nennen. Den ganzen Tag trägt und führt er sich mit Seraphine herum, die ihm auch gleich einer Klette anhängt. Aber ich verstehe ihn in seiner strengen Zurückgezogenheit, ich verstehe ihn besser als Jda ihn verstehen wird, wenn sie von ihrem Freudenrausch über Woldemar erst so weit wieder wach ist, Platov's Änderung gegen sie recht wahrzunehmen. Er versucht das Äußerste, seiner selbst Herr zu bleiben, da er des Vaters Gesinnung über diesen Punkt nicht kennt, und selbst Jda noch nicht errathen hat. Auch könn- te leicht sein Stolz ihn abhalten, eine solche Be- lehrung von dem Vater seines Zöglings zu fordern, ſtaunte den hohen Jüngling faſt mit Ehrerbietung an. Seit der Zeit ſeines Hierſeyns ſcheinen beide nur für einander zu leben. Tante, beſte Tante, was haſt Du mir für eine Schweſter gebildet, ſag- te er dieſen Morgen mit trunkener Freude. Solch ein Herz voll himmliſcher Liebe fand ich nirgends — außer bei noch einer — er ſtockte, und ein ſchönes Roth überflog ſein reines Angeſicht. Platov iſt ſehr ſtill und zurückhaltend gegen Jda. Wenn ich es nicht anders wüßte, könnte ich es eine feind- ſelige Entfernung nennen. Den ganzen Tag trägt und führt er ſich mit Seraphine herum, die ihm auch gleich einer Klette anhängt. Aber ich verſtehe ihn in ſeiner ſtrengen Zurückgezogenheit, ich verſtehe ihn beſſer als Jda ihn verſtehen wird, wenn ſie von ihrem Freudenrauſch über Woldemar erſt ſo weit wieder wach iſt, Platov’s Änderung gegen ſie recht wahrzunehmen. Er verſucht das Äußerſte, ſeiner ſelbſt Herr zu bleiben, da er des Vaters Geſinnung über dieſen Punkt nicht kennt, und ſelbſt Jda noch nicht errathen hat. Auch könn- te leicht ſein Stolz ihn abhalten, eine ſolche Be- lehrung von dem Vater ſeines Zöglings zu fordern, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0293" n="285"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> ſtaunte den hohen Jüngling faſt mit Ehrerbietung<lb/> an. Seit der Zeit ſeines Hierſeyns ſcheinen beide<lb/> nur für einander zu leben. Tante, beſte Tante,<lb/> was haſt Du mir für eine Schweſter gebildet, ſag-<lb/> te er dieſen Morgen mit trunkener Freude. Solch<lb/> ein Herz voll himmliſcher Liebe fand ich nirgends —<lb/> außer bei noch einer — er ſtockte, und ein ſchönes<lb/> Roth überflog ſein reines Angeſicht. Platov iſt<lb/> ſehr ſtill und zurückhaltend gegen Jda. Wenn ich<lb/> es nicht anders wüßte, könnte ich es eine feind-<lb/> ſelige Entfernung nennen. Den ganzen Tag<lb/> trägt und führt er ſich mit Seraphine herum, die<lb/> ihm auch gleich einer Klette anhängt. Aber ich<lb/> verſtehe ihn in ſeiner ſtrengen Zurückgezogenheit,<lb/> ich verſtehe ihn beſſer als Jda ihn verſtehen wird,<lb/> wenn ſie von ihrem Freudenrauſch über Woldemar<lb/> erſt ſo weit wieder wach iſt, Platov’s Änderung<lb/> gegen ſie recht wahrzunehmen. Er verſucht das<lb/> Äußerſte, ſeiner ſelbſt Herr zu bleiben, da er des<lb/> Vaters Geſinnung über dieſen Punkt nicht kennt,<lb/> und ſelbſt Jda noch nicht errathen hat. Auch könn-<lb/> te leicht ſein Stolz ihn abhalten, eine ſolche Be-<lb/> lehrung von dem Vater ſeines Zöglings zu fordern,<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [285/0293]
ſtaunte den hohen Jüngling faſt mit Ehrerbietung
an. Seit der Zeit ſeines Hierſeyns ſcheinen beide
nur für einander zu leben. Tante, beſte Tante,
was haſt Du mir für eine Schweſter gebildet, ſag-
te er dieſen Morgen mit trunkener Freude. Solch
ein Herz voll himmliſcher Liebe fand ich nirgends —
außer bei noch einer — er ſtockte, und ein ſchönes
Roth überflog ſein reines Angeſicht. Platov iſt
ſehr ſtill und zurückhaltend gegen Jda. Wenn ich
es nicht anders wüßte, könnte ich es eine feind-
ſelige Entfernung nennen. Den ganzen Tag
trägt und führt er ſich mit Seraphine herum, die
ihm auch gleich einer Klette anhängt. Aber ich
verſtehe ihn in ſeiner ſtrengen Zurückgezogenheit,
ich verſtehe ihn beſſer als Jda ihn verſtehen wird,
wenn ſie von ihrem Freudenrauſch über Woldemar
erſt ſo weit wieder wach iſt, Platov’s Änderung
gegen ſie recht wahrzunehmen. Er verſucht das
Äußerſte, ſeiner ſelbſt Herr zu bleiben, da er des
Vaters Geſinnung über dieſen Punkt nicht kennt,
und ſelbſt Jda noch nicht errathen hat. Auch könn-
te leicht ſein Stolz ihn abhalten, eine ſolche Be-
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