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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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Jch. So sollte es seyn, liebste Jda. Jn der
Welt ist es nicht mehr so.

Jda. Lehre mich nur recht viel, gute Tante,
deine Jda wird gewiß brav, wenn sie verständig
ist. Als der Herr Pfarrer letzten Sonntag über
die Worte predigte, daß, Christum lieb haben,
besser sey, als alles wissen: da habe ich ihn sehr
gut verstanden, und mir das recht gemerkt, daß
nicht Wissen an sich unnütz sey, sondern nur die
unrechte Anwendung das Wissen unnütz und
oft schädlich mache; und da sagte er, ein frommes
kindliches einfältiges Herz voll Liebe sey viel bes-
ser, als alles Wissen eines harten lieblosen Men-
schen. Wer aber seinen Geist mit schönen und
heilsamen Kenntnissen ausschmücke, und dabei
ein Herz voll warmer Liebe habe, der sey der
würdigste -- o Tante, da mußt' ich immer fort
an dich denken. Du weißt so viel, und bist so
hold und so lieb -- könnt' ich doch werden, wie
du bist!

Jch drückte die kleine Schwätzerin an mein
Herz, und es rollte eine Thräne über des Kindes
Stirne herab. Sanft lenkt' ich sie nun ab von

Jch. So ſollte es ſeyn, liebſte Jda. Jn der
Welt iſt es nicht mehr ſo.

Jda. Lehre mich nur recht viel, gute Tante,
deine Jda wird gewiß brav, wenn ſie verſtändig
iſt. Als der Herr Pfarrer letzten Sonntag über
die Worte predigte, daß, Chriſtum lieb haben,
beſſer ſey, als alles wiſſen: da habe ich ihn ſehr
gut verſtanden, und mir das recht gemerkt, daß
nicht Wiſſen an ſich unnütz ſey, ſondern nur die
unrechte Anwendung das Wiſſen unnütz und
oft ſchädlich mache; und da ſagte er, ein frommes
kindliches einfältiges Herz voll Liebe ſey viel beſ-
ſer, als alles Wiſſen eines harten liebloſen Men-
ſchen. Wer aber ſeinen Geiſt mit ſchönen und
heilſamen Kenntniſſen ausſchmücke, und dabei
ein Herz voll warmer Liebe habe, der ſey der
würdigſte — o Tante, da mußt’ ich immer fort
an dich denken. Du weißt ſo viel, und biſt ſo
hold und ſo lieb — könnt’ ich doch werden, wie
du biſt!

Jch drückte die kleine Schwätzerin an mein
Herz, und es rollte eine Thräne über des Kindes
Stirne herab. Sanft lenkt’ ich ſie nun ab von

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[21/0029] Jch. So ſollte es ſeyn, liebſte Jda. Jn der Welt iſt es nicht mehr ſo. Jda. Lehre mich nur recht viel, gute Tante, deine Jda wird gewiß brav, wenn ſie verſtändig iſt. Als der Herr Pfarrer letzten Sonntag über die Worte predigte, daß, Chriſtum lieb haben, beſſer ſey, als alles wiſſen: da habe ich ihn ſehr gut verſtanden, und mir das recht gemerkt, daß nicht Wiſſen an ſich unnütz ſey, ſondern nur die unrechte Anwendung das Wiſſen unnütz und oft ſchädlich mache; und da ſagte er, ein frommes kindliches einfältiges Herz voll Liebe ſey viel beſ- ſer, als alles Wiſſen eines harten liebloſen Men- ſchen. Wer aber ſeinen Geiſt mit ſchönen und heilſamen Kenntniſſen ausſchmücke, und dabei ein Herz voll warmer Liebe habe, der ſey der würdigſte — o Tante, da mußt’ ich immer fort an dich denken. Du weißt ſo viel, und biſt ſo hold und ſo lieb — könnt’ ich doch werden, wie du biſt! Jch drückte die kleine Schwätzerin an mein Herz, und es rollte eine Thräne über des Kindes Stirne herab. Sanft lenkt’ ich ſie nun ab von

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/29>, abgerufen am 29.03.2024.