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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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Aber scharf beobachten soll man nach solchen klei-
nen Vorfällen, und das werde ich.

Unerschöpflich ist Seraphine im Fragen. Jhr:
Warum? gibt mir manchmal zu schaffen. Heute
gleich beim Aufstehen verlangte sie nach dem Gar-
ten. Jch sagte ihr, sie könne noch nicht in den
Garten gehen, weil es sehr naß im Garten sey.
Sie war verdrießlich, und fragte: warum ist es
denn so naß? -- Es hat diese Nacht stark gereg-
net, mein Kind. Aber warum hat es denn ge-
regnet? -- Weil die Blumen so durstig waren,
und gern Regentropfen trinken wollten, so wie Du
gern Milch und Wasser trinkst, wann Du durstig
bist. Es regnete bald darauf wieder, und Sera-
phine stand ganz still am Fenster und schaute nach
den Granaten und Orangenbäumchen außen auf
der Fensterbank, wie die Tropfen in die aufgeschlos-
senen Kelche fielen. Mutter, Mutter, die Blume
thut den Mund auf und trinkt, rief sie schnell.
Bald kam ein kleiner Zeisig geflogen, und trank
von dem Wasser, das sich in den Orangenblüthen
gefangen hatte. Jhre Freude war sehr groß.



Aber ſcharf beobachten ſoll man nach ſolchen klei-
nen Vorfällen, und das werde ich.

Unerſchöpflich iſt Seraphine im Fragen. Jhr:
Warum? gibt mir manchmal zu ſchaffen. Heute
gleich beim Aufſtehen verlangte ſie nach dem Gar-
ten. Jch ſagte ihr, ſie könne noch nicht in den
Garten gehen, weil es ſehr naß im Garten ſey.
Sie war verdrießlich, und fragte: warum iſt es
denn ſo naß? — Es hat dieſe Nacht ſtark gereg-
net, mein Kind. Aber warum hat es denn ge-
regnet? — Weil die Blumen ſo durſtig waren,
und gern Regentropfen trinken wollten, ſo wie Du
gern Milch und Waſſer trinkſt, wann Du durſtig
biſt. Es regnete bald darauf wieder, und Sera-
phine ſtand ganz ſtill am Fenſter und ſchaute nach
den Granaten und Orangenbäumchen außen auf
der Fenſterbank, wie die Tropfen in die aufgeſchloſ-
ſenen Kelche fielen. Mutter, Mutter, die Blume
thut den Mund auf und trinkt, rief ſie ſchnell.
Bald kam ein kleiner Zeiſig geflogen, und trank
von dem Waſſer, das ſich in den Orangenblüthen
gefangen hatte. Jhre Freude war ſehr groß.

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[248/0256] Aber ſcharf beobachten ſoll man nach ſolchen klei- nen Vorfällen, und das werde ich. Unerſchöpflich iſt Seraphine im Fragen. Jhr: Warum? gibt mir manchmal zu ſchaffen. Heute gleich beim Aufſtehen verlangte ſie nach dem Gar- ten. Jch ſagte ihr, ſie könne noch nicht in den Garten gehen, weil es ſehr naß im Garten ſey. Sie war verdrießlich, und fragte: warum iſt es denn ſo naß? — Es hat dieſe Nacht ſtark gereg- net, mein Kind. Aber warum hat es denn ge- regnet? — Weil die Blumen ſo durſtig waren, und gern Regentropfen trinken wollten, ſo wie Du gern Milch und Waſſer trinkſt, wann Du durſtig biſt. Es regnete bald darauf wieder, und Sera- phine ſtand ganz ſtill am Fenſter und ſchaute nach den Granaten und Orangenbäumchen außen auf der Fenſterbank, wie die Tropfen in die aufgeſchloſ- ſenen Kelche fielen. Mutter, Mutter, die Blume thut den Mund auf und trinkt, rief ſie ſchnell. Bald kam ein kleiner Zeiſig geflogen, und trank von dem Waſſer, das ſich in den Orangenblüthen gefangen hatte. Jhre Freude war ſehr groß.

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/256>, abgerufen am 03.05.2024.