Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.Du hast sie alle, riefen die drei andern auf ein- mal. Auch Bruno sagte: ich schließe mich den übrigen an. Nun so hört denn: unser kleiner Liebling Seraphie hat das Unglück gehabt, in die- ser Nacht seine Mutter zu verlieren. Sie ist an einer Krampfkolik sehr plötzlich gestorben. Wahr- scheinlich hat sie wegen ihres Kindes nichts beschlies- sen können, und dies würde nun den Mägden über- lassen bleiben, bis die Obrigkeit sich seiner annäh- me. Diese kleine verlassene Seraphine ist es also die wir als Tochter und Schwester aufnehmen wol- len. Jch habe aber nun manches von euch zu for- dern, welches unverbrüchlich gehalten werden muß. Wenn die Natur selber uns ein kleines hülfloses Menschengeschöpf anvertraut, so legt sie uns zngleich die unerläßliche Pflicht auf, alles was in Gegenwart des Kindes gethan wird, so zu thun, daß es der freien Entwickelung seiner Kör- per- und Verstandeskräfte, und der besten Wil- lensrichtung auf keine Weise hinderlich, sondern durchaus beförderlich sey. Überhaupt sind die Rech- te der schwachen hülflosen Unschuld sehr heilig -- wer sie nicht achtet, wer sie verletzt, über den ist Du haſt ſie alle, riefen die drei andern auf ein- mal. Auch Bruno ſagte: ich ſchließe mich den übrigen an. Nun ſo hört denn: unſer kleiner Liebling Seraphie hat das Unglück gehabt, in die- ſer Nacht ſeine Mutter zu verlieren. Sie iſt an einer Krampfkolik ſehr plötzlich geſtorben. Wahr- ſcheinlich hat ſie wegen ihres Kindes nichts beſchlieſ- ſen können, und dies würde nun den Mägden über- laſſen bleiben, bis die Obrigkeit ſich ſeiner annäh- me. Dieſe kleine verlaſſene Seraphine iſt es alſo die wir als Tochter und Schweſter aufnehmen wol- len. Jch habe aber nun manches von euch zu for- dern, welches unverbrüchlich gehalten werden muß. Wenn die Natur ſelber uns ein kleines hülfloſes Menſchengeſchöpf anvertraut, ſo legt ſie uns zngleich die unerläßliche Pflicht auf, alles was in Gegenwart des Kindes gethan wird, ſo zu thun, daß es der freien Entwickelung ſeiner Kör- per- und Verſtandeskräfte, und der beſten Wil- lensrichtung auf keine Weiſe hinderlich, ſondern durchaus beförderlich ſey. Überhaupt ſind die Rech- te der ſchwachen hülfloſen Unſchuld ſehr heilig — wer ſie nicht achtet, wer ſie verletzt, über den iſt <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0208" n="200"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> Du haſt ſie alle, riefen die drei andern auf ein-<lb/> mal. Auch Bruno ſagte: ich ſchließe mich den<lb/> übrigen an. Nun ſo hört denn: unſer kleiner<lb/> Liebling Seraphie hat das Unglück gehabt, in die-<lb/> ſer Nacht ſeine Mutter zu verlieren. Sie iſt an<lb/> einer Krampfkolik ſehr plötzlich geſtorben. Wahr-<lb/> ſcheinlich hat ſie wegen ihres Kindes nichts beſchlieſ-<lb/> ſen können, und dies würde nun den Mägden über-<lb/> laſſen bleiben, bis die Obrigkeit ſich ſeiner annäh-<lb/> me. Dieſe kleine verlaſſene Seraphine iſt es alſo<lb/> die wir als Tochter und Schweſter aufnehmen wol-<lb/> len. Jch habe aber nun manches von euch zu for-<lb/> dern, welches unverbrüchlich gehalten werden<lb/> muß. Wenn die Natur ſelber uns ein kleines<lb/> hülfloſes Menſchengeſchöpf anvertraut, ſo legt ſie<lb/> uns zngleich die unerläßliche Pflicht auf, alles was<lb/> in Gegenwart des Kindes gethan wird, ſo zu<lb/> thun, daß es der freien Entwickelung ſeiner Kör-<lb/> per- und Verſtandeskräfte, und der beſten Wil-<lb/> lensrichtung auf keine Weiſe hinderlich, ſondern<lb/> durchaus beförderlich ſey. Überhaupt ſind die Rech-<lb/> te der ſchwachen hülfloſen Unſchuld ſehr heilig —<lb/> wer ſie nicht achtet, wer ſie verletzt, über den iſt<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [200/0208]
Du haſt ſie alle, riefen die drei andern auf ein-
mal. Auch Bruno ſagte: ich ſchließe mich den
übrigen an. Nun ſo hört denn: unſer kleiner
Liebling Seraphie hat das Unglück gehabt, in die-
ſer Nacht ſeine Mutter zu verlieren. Sie iſt an
einer Krampfkolik ſehr plötzlich geſtorben. Wahr-
ſcheinlich hat ſie wegen ihres Kindes nichts beſchlieſ-
ſen können, und dies würde nun den Mägden über-
laſſen bleiben, bis die Obrigkeit ſich ſeiner annäh-
me. Dieſe kleine verlaſſene Seraphine iſt es alſo
die wir als Tochter und Schweſter aufnehmen wol-
len. Jch habe aber nun manches von euch zu for-
dern, welches unverbrüchlich gehalten werden
muß. Wenn die Natur ſelber uns ein kleines
hülfloſes Menſchengeſchöpf anvertraut, ſo legt ſie
uns zngleich die unerläßliche Pflicht auf, alles was
in Gegenwart des Kindes gethan wird, ſo zu
thun, daß es der freien Entwickelung ſeiner Kör-
per- und Verſtandeskräfte, und der beſten Wil-
lensrichtung auf keine Weiſe hinderlich, ſondern
durchaus beförderlich ſey. Überhaupt ſind die Rech-
te der ſchwachen hülfloſen Unſchuld ſehr heilig —
wer ſie nicht achtet, wer ſie verletzt, über den iſt
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