und es sehen mußt. O wärst Du erst hier! Wären wir einmal alle vereinigt! Wahrlich, Du entbehrst zu viel, daß Du Deine Jda nicht werden siehest, was sie bald seyn wird, eine der holdseligsten Jung- frauen. Jst doch das Werden fast überall köstli- cher erquickender zu schauen, als das herrlichste Seyn. Freilich nur dem menschlichen Geiste -- aber von einem höheren, der kein Werden kennt, und das ewige Seyn selber ist, haben wir ja nur dunkele Ahnung. Warum rührt und erquickt uns der Frühling durch sein Treiben und Keimen zum Leben so innig? -- Aber bin ich nicht eine Thörin, daß ich den Stachel Deines ohnehin zu schmerzlichen Sehnens nach uns noch mehr schärfe, da ich alles aufsuchen sollte, wodurch er sich nur einigermaßen besänftigen ließe? -- Die Kinder schicken Dir dies- mal ihr Längenmaaß mit. -- So bald ich eines guten Malers oder nur Zeichners habhaft werden kann, erhältst Du Jda's Bild. Bis dahin be- gnüge Dich mit dem, was die Feder zeichnen kann. Jda ist etwas weniger lang wie Mathilde, wie das die Maaße ausweisen, und es scheint, als würde sie nicht viel mehr wachsen, da ihre ganze Gestalt
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und es ſehen mußt. O wärſt Du erſt hier! Wären wir einmal alle vereinigt! Wahrlich, Du entbehrſt zu viel, daß Du Deine Jda nicht werden ſieheſt, was ſie bald ſeyn wird, eine der holdſeligſten Jung- frauen. Jſt doch das Werden faſt überall köſtli- cher erquickender zu ſchauen, als das herrlichſte Seyn. Freilich nur dem menſchlichen Geiſte — aber von einem höheren, der kein Werden kennt, und das ewige Seyn ſelber iſt, haben wir ja nur dunkele Ahnung. Warum rührt und erquickt uns der Frühling durch ſein Treiben und Keimen zum Leben ſo innig? — Aber bin ich nicht eine Thörin, daß ich den Stachel Deines ohnehin zu ſchmerzlichen Sehnens nach uns noch mehr ſchärfe, da ich alles aufſuchen ſollte, wodurch er ſich nur einigermaßen beſänftigen ließe? — Die Kinder ſchicken Dir dies- mal ihr Längenmaaß mit. — So bald ich eines guten Malers oder nur Zeichners habhaft werden kann, erhältſt Du Jda’s Bild. Bis dahin be- gnüge Dich mit dem, was die Feder zeichnen kann. Jda iſt etwas weniger lang wie Mathilde, wie das die Maaße ausweiſen, und es ſcheint, als würde ſie nicht viel mehr wachſen, da ihre ganze Geſtalt
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und es ſehen mußt. O wärſt Du erſt hier! Wären
wir einmal alle vereinigt! Wahrlich, Du entbehrſt
zu viel, daß Du Deine Jda nicht werden ſieheſt,
was ſie bald ſeyn wird, eine der holdſeligſten Jung-
frauen. Jſt doch das Werden faſt überall köſtli-
cher erquickender zu ſchauen, als das herrlichſte
Seyn. Freilich nur dem menſchlichen Geiſte —
aber von einem höheren, der kein Werden kennt,
und das ewige Seyn ſelber iſt, haben wir ja nur
dunkele Ahnung. Warum rührt und erquickt uns
der Frühling durch ſein Treiben und Keimen zum
Leben ſo innig? — Aber bin ich nicht eine Thörin,
daß ich den Stachel Deines ohnehin zu ſchmerzlichen
Sehnens nach uns noch mehr ſchärfe, da ich alles
aufſuchen ſollte, wodurch er ſich nur einigermaßen
beſänftigen ließe? — Die Kinder ſchicken Dir dies-
mal ihr Längenmaaß mit. — So bald ich eines
guten Malers oder nur Zeichners habhaft werden
kann, erhältſt Du Jda’s Bild. Bis dahin be-
gnüge Dich mit dem, was die Feder zeichnen kann.
Jda iſt etwas weniger lang wie Mathilde, wie das
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ſie nicht viel mehr wachſen, da ihre ganze Geſtalt
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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/153>, abgerufen am 21.11.2024.
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