Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807.

Bild:
<< vorherige Seite



nigstens für völlig überflüssig erklären würden.
Denn, würden sie sagen, wenn man auch das
Unschuldigste tadeln und verwerfen will, und
wenn man dem Kinde keine zärtliche Liebkosung
mehr machen darf, ohne ängstlich zu berechnen,
ob es ihm auch nicht schade: so ist es, als wenn
man ihm auch seine Portion Speise und Getränk
jedesmal zuwägen müßte. Wenigstens antworte-
te eine Mutter einmal einem verständigen Man-
ne etwas der Art, als er sie bat, nicht zuzuge-
ben, daß die Amme ihr Kind so heftig küsse,
da das Kind sogar unwillig ward, und die hefti-
ge Amme von sich abwehrte. Die Kleine wäre
nur eigensinnig, meynte sie, und dann möchte sie
keine Liebkosungen, auch von ihr, der Mutter
nicht. Daran müsse sie sich aber doch gewöh-
nen. -- Der Pädagog schwieg, und deine Freun-
din schweigt auch von diesem unzarten Gegen-
stande. Er, weil er sah, daß solche Lehre hier
auf den Felsen fiel; die Freundin, weil sie fühlt,
daß sie bei Dir überflüssig sey. -- Aber eins
noch: bitte alle, die Dein Kind lieb haben,
und sich gern mit ihm zu schaffen machen, die



nigſtens für völlig überflüſſig erklären würden.
Denn, würden ſie ſagen, wenn man auch das
Unſchuldigſte tadeln und verwerfen will, und
wenn man dem Kinde keine zärtliche Liebkoſung
mehr machen darf, ohne ängſtlich zu berechnen,
ob es ihm auch nicht ſchade: ſo iſt es, als wenn
man ihm auch ſeine Portion Speiſe und Getränk
jedesmal zuwägen müßte. Wenigſtens antworte-
te eine Mutter einmal einem verſtändigen Man-
ne etwas der Art, als er ſie bat, nicht zuzuge-
ben, daß die Amme ihr Kind ſo heftig küſſe,
da das Kind ſogar unwillig ward, und die hefti-
ge Amme von ſich abwehrte. Die Kleine wäre
nur eigenſinnig, meynte ſie, und dann möchte ſie
keine Liebkoſungen, auch von ihr, der Mutter
nicht. Daran müſſe ſie ſich aber doch gewöh-
nen. — Der Pädagog ſchwieg, und deine Freun-
din ſchweigt auch von dieſem unzarten Gegen-
ſtande. Er, weil er ſah, daß ſolche Lehre hier
auf den Felſen fiel; die Freundin, weil ſie fühlt,
daß ſie bei Dir überflüſſig ſey. — Aber eins
noch: bitte alle, die Dein Kind lieb haben,
und ſich gern mit ihm zu ſchaffen machen, die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0054" n="40"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
nig&#x017F;tens für völlig überflü&#x017F;&#x017F;ig erklären würden.<lb/>
Denn, würden &#x017F;ie &#x017F;agen, wenn man auch das<lb/>
Un&#x017F;chuldig&#x017F;te tadeln und verwerfen will, und<lb/>
wenn man dem Kinde keine zärtliche Liebko&#x017F;ung<lb/>
mehr machen darf, ohne äng&#x017F;tlich zu berechnen,<lb/>
ob es ihm auch nicht &#x017F;chade: &#x017F;o i&#x017F;t es, als wenn<lb/>
man ihm auch &#x017F;eine Portion Spei&#x017F;e und Getränk<lb/>
jedesmal zuwägen müßte. Wenig&#x017F;tens antworte-<lb/>
te eine Mutter einmal einem ver&#x017F;tändigen Man-<lb/>
ne etwas der Art, als er &#x017F;ie bat, nicht zuzuge-<lb/>
ben, daß die Amme ihr Kind &#x017F;o heftig kü&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
da das Kind &#x017F;ogar unwillig ward, und die hefti-<lb/>
ge Amme von &#x017F;ich abwehrte. Die Kleine wäre<lb/>
nur eigen&#x017F;innig, meynte &#x017F;ie, und dann möchte &#x017F;ie<lb/>
keine Liebko&#x017F;ungen, auch von ihr, der Mutter<lb/>
nicht. Daran mü&#x017F;&#x017F;e &#x017F;ie &#x017F;ich aber doch gewöh-<lb/>
nen. &#x2014; Der Pädagog &#x017F;chwieg, und deine Freun-<lb/>
din &#x017F;chweigt auch von die&#x017F;em unzarten Gegen-<lb/>
&#x017F;tande. Er, weil er &#x017F;ah, daß &#x017F;olche Lehre hier<lb/>
auf den Fel&#x017F;en fiel; die Freundin, weil &#x017F;ie fühlt,<lb/>
daß &#x017F;ie bei Dir überflü&#x017F;&#x017F;ig &#x017F;ey. &#x2014; Aber eins<lb/>
noch: bitte alle, die Dein Kind lieb haben,<lb/>
und &#x017F;ich gern mit ihm zu &#x017F;chaffen machen, die<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[40/0054] nigſtens für völlig überflüſſig erklären würden. Denn, würden ſie ſagen, wenn man auch das Unſchuldigſte tadeln und verwerfen will, und wenn man dem Kinde keine zärtliche Liebkoſung mehr machen darf, ohne ängſtlich zu berechnen, ob es ihm auch nicht ſchade: ſo iſt es, als wenn man ihm auch ſeine Portion Speiſe und Getränk jedesmal zuwägen müßte. Wenigſtens antworte- te eine Mutter einmal einem verſtändigen Man- ne etwas der Art, als er ſie bat, nicht zuzuge- ben, daß die Amme ihr Kind ſo heftig küſſe, da das Kind ſogar unwillig ward, und die hefti- ge Amme von ſich abwehrte. Die Kleine wäre nur eigenſinnig, meynte ſie, und dann möchte ſie keine Liebkoſungen, auch von ihr, der Mutter nicht. Daran müſſe ſie ſich aber doch gewöh- nen. — Der Pädagog ſchwieg, und deine Freun- din ſchweigt auch von dieſem unzarten Gegen- ſtande. Er, weil er ſah, daß ſolche Lehre hier auf den Felſen fiel; die Freundin, weil ſie fühlt, daß ſie bei Dir überflüſſig ſey. — Aber eins noch: bitte alle, die Dein Kind lieb haben, und ſich gern mit ihm zu ſchaffen machen, die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/54
Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/54>, abgerufen am 19.05.2024.