aber Du wirst wohl sehen, wie sie dann weiter folgen. Dies ist mein zweiter Brief, lieber Wol- demar. Jch wüßte Dir noch wohl viel zu schrei- ben, wenn ich nur wüßte, wie ich es schreiben sollte. Jch bin so ungeduldig, Dich zu sehen, daß ich gar nicht mehr schreiben kann. Komm nur bald, Herzens Woldemar." --
Nun wußt' ich erst, warum das liebe Geschöpf heute so früh aus dem Bette wollte. Jn einem angefeuchteten Tuche hatte sie noch ein Kränzchen aufbewahrt, das legte sie den Mittag um Wol- demar's Trinkglas. Unter seiner Serviette fand er Deinen und Deines Mannes Briefe, die gestern für ihn ankamen, da war er ganz felig.
Und wie er des Vaters Lob und Zufriedenheit las, glühete er über und über. Als er an die Worte kam: werde nur ein braver Mensch, und nicht zu weich, da sah er Platov an, den er mit- lesen ließ, und fragte: bin ich es denn noch im- mer? der sagte: noch wohl, mein Junger; aber das wird sich schon geben. Lerne nur brav. Und
aber Du wirſt wohl ſehen, wie ſie dann weiter folgen. Dies iſt mein zweiter Brief, lieber Wol- demar. Jch wüßte Dir noch wohl viel zu ſchrei- ben, wenn ich nur wüßte, wie ich es ſchreiben ſollte. Jch bin ſo ungeduldig, Dich zu ſehen, daß ich gar nicht mehr ſchreiben kann. Komm nur bald, Herzens Woldemar.‟ —
Nun wußt’ ich erſt, warum das liebe Geſchöpf heute ſo früh aus dem Bette wollte. Jn einem angefeuchteten Tuche hatte ſie noch ein Kränzchen aufbewahrt, das legte ſie den Mittag um Wol- demar’s Trinkglas. Unter ſeiner Serviette fand er Deinen und Deines Mannes Briefe, die geſtern für ihn ankamen, da war er ganz felig.
Und wie er des Vaters Lob und Zufriedenheit las, glühete er über und über. Als er an die Worte kam: werde nur ein braver Menſch, und nicht zu weich, da ſah er Platov an, den er mit- leſen ließ, und fragte: bin ich es denn noch im- mer? der ſagte: noch wohl, mein Junger; aber das wird ſich ſchon geben. Lerne nur brav. Und
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><floatingText><body><divtype="letter"><p><pbfacs="#f0228"n="214"/>
aber Du wirſt wohl ſehen, wie ſie dann weiter<lb/>
folgen. Dies iſt mein zweiter Brief, lieber Wol-<lb/>
demar. Jch wüßte Dir noch wohl viel zu ſchrei-<lb/>
ben, wenn ich nur wüßte, wie ich es ſchreiben<lb/>ſollte. Jch bin ſo ungeduldig, Dich zu ſehen,<lb/>
daß ich gar nicht mehr ſchreiben kann. Komm<lb/>
nur bald, Herzens Woldemar.‟—</p></div></body></floatingText><lb/><p>Nun wußt’ ich erſt, warum das liebe Geſchöpf<lb/>
heute ſo früh aus dem Bette wollte. Jn einem<lb/>
angefeuchteten Tuche hatte ſie noch ein Kränzchen<lb/>
aufbewahrt, das legte ſie den Mittag um Wol-<lb/>
demar’s Trinkglas. Unter ſeiner Serviette fand<lb/>
er Deinen und Deines Mannes Briefe, die<lb/>
geſtern für ihn ankamen, da war er ganz felig.</p><lb/><p>Und wie er des Vaters Lob und Zufriedenheit<lb/>
las, glühete er über und über. Als er an die<lb/>
Worte kam: werde nur ein braver Menſch, und<lb/>
nicht zu weich, da ſah er Platov an, den er mit-<lb/>
leſen ließ, und fragte: bin ich es denn noch im-<lb/>
mer? der ſagte: noch wohl, mein Junger; aber<lb/>
das wird ſich ſchon geben. Lerne nur brav. Und<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[214/0228]
aber Du wirſt wohl ſehen, wie ſie dann weiter
folgen. Dies iſt mein zweiter Brief, lieber Wol-
demar. Jch wüßte Dir noch wohl viel zu ſchrei-
ben, wenn ich nur wüßte, wie ich es ſchreiben
ſollte. Jch bin ſo ungeduldig, Dich zu ſehen,
daß ich gar nicht mehr ſchreiben kann. Komm
nur bald, Herzens Woldemar.‟ —
Nun wußt’ ich erſt, warum das liebe Geſchöpf
heute ſo früh aus dem Bette wollte. Jn einem
angefeuchteten Tuche hatte ſie noch ein Kränzchen
aufbewahrt, das legte ſie den Mittag um Wol-
demar’s Trinkglas. Unter ſeiner Serviette fand
er Deinen und Deines Mannes Briefe, die
geſtern für ihn ankamen, da war er ganz felig.
Und wie er des Vaters Lob und Zufriedenheit
las, glühete er über und über. Als er an die
Worte kam: werde nur ein braver Menſch, und
nicht zu weich, da ſah er Platov an, den er mit-
leſen ließ, und fragte: bin ich es denn noch im-
mer? der ſagte: noch wohl, mein Junger; aber
das wird ſich ſchon geben. Lerne nur brav. Und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/228>, abgerufen am 14.10.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.