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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807.

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Mathilde. O! du gütige Tante! Nun will
ich auch recht fromm und froh mit Jda seyn, und
will dir alles sagen, was ich denke: dann werde
ich gewiß nicht mehr so oft unvernünftig denken.

Jch. Hast du denn den Bruder recht lieb?

Mathilde. Ja, Tante Selma, ich habe ihn
wohl recht lieb; aber es ist so schmerzlich, und ich
freue mich fast niemals, wenn ich an ihn denke.
Glaubst du wohl, Tante, daß ich mich noch ein-
mal so über ihn freuen kann, wie Jda über Wol-
demar? Ach! wenn ich ihn so lieb haben könnte,
wie wollte ich dann glücklich seyn!

Jch. Vielleicht, mein gutes Kind! Aber wenn's
auch nicht so seyn kann. Lieb haben soll eine gute
Schwester den Bruder doch immer. Strafe bessert
meistens nur des Menschen äußeres Betragen;
aber Liebe, recht fromme unermüdliche Liebe bes-
sert ihn von innen aus, wenn er noch nicht ganz
böse ist.

Mathilde. Ach, Tante! das kann ich füh-
len, daß du Recht hast; deine Liebe hat mich schon

Mathilde. O! du gütige Tante! Nun will
ich auch recht fromm und froh mit Jda ſeyn, und
will dir alles ſagen, was ich denke: dann werde
ich gewiß nicht mehr ſo oft unvernünftig denken.

Jch. Haſt du denn den Bruder recht lieb?

Mathilde. Ja, Tante Selma, ich habe ihn
wohl recht lieb; aber es iſt ſo ſchmerzlich, und ich
freue mich faſt niemals, wenn ich an ihn denke.
Glaubſt du wohl, Tante, daß ich mich noch ein-
mal ſo über ihn freuen kann, wie Jda über Wol-
demar? Ach! wenn ich ihn ſo lieb haben könnte,
wie wollte ich dann glücklich ſeyn!

Jch. Vielleicht, mein gutes Kind! Aber wenn’s
auch nicht ſo ſeyn kann. Lieb haben ſoll eine gute
Schweſter den Bruder doch immer. Strafe beſſert
meiſtens nur des Menſchen äußeres Betragen;
aber Liebe, recht fromme unermüdliche Liebe beſ-
ſert ihn von innen aus, wenn er noch nicht ganz
böſe iſt.

Mathilde. Ach, Tante! das kann ich füh-
len, daß du Recht haſt; deine Liebe hat mich ſchon

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[205/0219] Mathilde. O! du gütige Tante! Nun will ich auch recht fromm und froh mit Jda ſeyn, und will dir alles ſagen, was ich denke: dann werde ich gewiß nicht mehr ſo oft unvernünftig denken. Jch. Haſt du denn den Bruder recht lieb? Mathilde. Ja, Tante Selma, ich habe ihn wohl recht lieb; aber es iſt ſo ſchmerzlich, und ich freue mich faſt niemals, wenn ich an ihn denke. Glaubſt du wohl, Tante, daß ich mich noch ein- mal ſo über ihn freuen kann, wie Jda über Wol- demar? Ach! wenn ich ihn ſo lieb haben könnte, wie wollte ich dann glücklich ſeyn! Jch. Vielleicht, mein gutes Kind! Aber wenn’s auch nicht ſo ſeyn kann. Lieb haben ſoll eine gute Schweſter den Bruder doch immer. Strafe beſſert meiſtens nur des Menſchen äußeres Betragen; aber Liebe, recht fromme unermüdliche Liebe beſ- ſert ihn von innen aus, wenn er noch nicht ganz böſe iſt. Mathilde. Ach, Tante! das kann ich füh- len, daß du Recht haſt; deine Liebe hat mich ſchon

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/219>, abgerufen am 05.10.2024.