Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807.

Bild:
<< vorherige Seite

Während ich mit Platov im Nebenzimmer war,
klopfte Jda ein paarmal an die Thüre und rief:
"Tante! soll ich zum Becker gehen? Er wohnt
"uns, wie du weißt, gerade gegenüber." Jch
schickte Gertrud mit ihr. Sie nahm mit gravitä-
tischer Miene ihr Geld. Woldemar zog seine Börse
heraus und gab ihr das fehlende, faßte sie bei der
Hand, und ging mit ihr und Gertrud hinüber.
Sie brachten vier Brote getragen.

O! hättest Du Deine Kinder so gesehen, liebste
Emma! Mir pochte das Herz gewaltig. Nun hü-
tete Jda das Fenster, bis sie Paul endlich erblick-
te. Woldemar trug ihr die Brote hinunter, woll-
te aber nicht dabei seyn, wenn Jda sie Paul gäbe.
Was das eigentlich war, weiß ich noch nicht; ob
er sich fürchtete, den alten Menschen zu weich zu
sehen, oder ob er dem Schwesterchen die Ehre und
Freude allein gönnen wollte; kurz, er blieb oben.
Jch ging mit ihr. "Sieh, lieber alter Paul,
sagte sie, da hast du für die ganze Woche zu essen:
ich habe es aber nicht allein gegeben. Mein Wol-
demar und ich, wir haben es Beide gethan; hast

Während ich mit Platov im Nebenzimmer war,
klopfte Jda ein paarmal an die Thüre und rief:
„Tante! ſoll ich zum Becker gehen? Er wohnt
„uns, wie du weißt, gerade gegenüber.‟ Jch
ſchickte Gertrud mit ihr. Sie nahm mit gravitä-
tiſcher Miene ihr Geld. Woldemar zog ſeine Börſe
heraus und gab ihr das fehlende, faßte ſie bei der
Hand, und ging mit ihr und Gertrud hinüber.
Sie brachten vier Brote getragen.

O! hätteſt Du Deine Kinder ſo geſehen, liebſte
Emma! Mir pochte das Herz gewaltig. Nun hü-
tete Jda das Fenſter, bis ſie Paul endlich erblick-
te. Woldemar trug ihr die Brote hinunter, woll-
te aber nicht dabei ſeyn, wenn Jda ſie Paul gäbe.
Was das eigentlich war, weiß ich noch nicht; ob
er ſich fürchtete, den alten Menſchen zu weich zu
ſehen, oder ob er dem Schweſterchen die Ehre und
Freude allein gönnen wollte; kurz, er blieb oben.
Jch ging mit ihr. „Sieh, lieber alter Paul,
ſagte ſie, da haſt du für die ganze Woche zu eſſen:
ich habe es aber nicht allein gegeben. Mein Wol-
demar und ich, wir haben es Beide gethan; haſt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0165" n="151"/>
          <p>Während ich mit Platov im Nebenzimmer war,<lb/>
klopfte Jda ein paarmal an die Thüre und rief:<lb/>
&#x201E;Tante! &#x017F;oll ich zum Becker gehen? Er wohnt<lb/>
&#x201E;uns, wie du weißt, gerade gegenüber.&#x201F; Jch<lb/>
&#x017F;chickte Gertrud mit ihr. Sie nahm mit gravitä-<lb/>
ti&#x017F;cher Miene ihr Geld. Woldemar zog &#x017F;eine Bör&#x017F;e<lb/>
heraus und gab ihr das fehlende, faßte &#x017F;ie bei der<lb/>
Hand, und ging mit ihr und Gertrud hinüber.<lb/>
Sie brachten vier Brote getragen.</p><lb/>
          <p>O! hätte&#x017F;t Du Deine Kinder &#x017F;o ge&#x017F;ehen, lieb&#x017F;te<lb/>
Emma! Mir pochte das Herz gewaltig. Nun hü-<lb/>
tete Jda das Fen&#x017F;ter, bis &#x017F;ie Paul endlich erblick-<lb/>
te. Woldemar trug ihr die Brote hinunter, woll-<lb/>
te aber nicht dabei &#x017F;eyn, wenn Jda &#x017F;ie Paul gäbe.<lb/>
Was das eigentlich war, weiß ich noch nicht; ob<lb/>
er &#x017F;ich fürchtete, den alten Men&#x017F;chen zu weich zu<lb/>
&#x017F;ehen, oder ob er dem Schwe&#x017F;terchen die Ehre und<lb/>
Freude allein gönnen wollte; kurz, er blieb oben.<lb/>
Jch ging mit ihr. &#x201E;Sieh, lieber alter Paul,<lb/>
&#x017F;agte &#x017F;ie, da ha&#x017F;t du für die ganze Woche zu e&#x017F;&#x017F;en:<lb/>
ich habe es aber nicht allein gegeben. Mein Wol-<lb/>
demar und ich, wir haben es Beide gethan; ha&#x017F;t<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[151/0165] Während ich mit Platov im Nebenzimmer war, klopfte Jda ein paarmal an die Thüre und rief: „Tante! ſoll ich zum Becker gehen? Er wohnt „uns, wie du weißt, gerade gegenüber.‟ Jch ſchickte Gertrud mit ihr. Sie nahm mit gravitä- tiſcher Miene ihr Geld. Woldemar zog ſeine Börſe heraus und gab ihr das fehlende, faßte ſie bei der Hand, und ging mit ihr und Gertrud hinüber. Sie brachten vier Brote getragen. O! hätteſt Du Deine Kinder ſo geſehen, liebſte Emma! Mir pochte das Herz gewaltig. Nun hü- tete Jda das Fenſter, bis ſie Paul endlich erblick- te. Woldemar trug ihr die Brote hinunter, woll- te aber nicht dabei ſeyn, wenn Jda ſie Paul gäbe. Was das eigentlich war, weiß ich noch nicht; ob er ſich fürchtete, den alten Menſchen zu weich zu ſehen, oder ob er dem Schweſterchen die Ehre und Freude allein gönnen wollte; kurz, er blieb oben. Jch ging mit ihr. „Sieh, lieber alter Paul, ſagte ſie, da haſt du für die ganze Woche zu eſſen: ich habe es aber nicht allein gegeben. Mein Wol- demar und ich, wir haben es Beide gethan; haſt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/165
Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/165>, abgerufen am 13.10.2024.