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Roux, Wilhelm: Der Kampf der Teile des Organismus. Leipzig, 1881.

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V. Ueber das Wesen des Organischen.
fertige, angeborene Mechanismen hielt, obgleich er in einem
Hinweis auf das Verhalten in pathologischen Fällen schon den
richtigen Weg betreten hatte. Wir sind aber keine "Spieldosen
mit Tausend oder Millionen Liedern, welche auf Millionen mög-
licher Weise im Laufe des Lebens eintretender Bedürfnisse be-
rechnet und eingestellt sind", mit denen er uns vergleicht, son-
dern wir sind Einrichtungen, welche jeden Tag neue Lieder
lernen können. Wie sich ein witziger Kopf, welcher in jeder
Situation sofort das Wesentliche erfasst und geistreich pointirt zum
Ausdrucke bringt, unterscheidet von einem blossen Colporteur
von Witzen, der aus seinem angesammelten Vorrath den für
die Situation passendsten aussucht, oder wie sich der richtige
Arzt, welcher für jeden Krankheitsfall nach den individuellen
Umständen desselben seine Ordination einrichtet, unterscheidet
von dem blossen Routinier, der jeden Tag seine auswendig
gelernten 50 Recepte immer von neuem an das kranke Publi-
kum verkauft, ebenso unterscheidet sich der thierische Orga-
nismus von einem fertigen Mechanismus, selbst von einem sol-
chen mit Selbststeuerung.

Dieser letztere Ausdruck ist eigentlich die richtige Be-
zeichnung für die Auffassung, welche Pflüger's Arbeit zu
Grunde liegt, nicht aber Selbstregulation. Die Selbststeuerung
ist eine Selbstregulation, welche für eine bestimmte Variations-
breite nach beiden Seiten von einem bestimmten Mittelpunkte
hin eingerichtet ist; der Organismus aber hat Selbstregulatio-
nen allgemeinsten Charakters, bei denen nach einiger Zeit des
Verharrens in einer abweichenden Lage diese letztere zum Mit-
telpunkt der neuen Variationsbreite wird; und wenn die Ab-
weichung immer nach Einer Seite hin weiter fortgeht, so kann
der neue Mittelpunkt viel seitwärts abliegen von dem Maximum
der ursprünglichen Variationsbreite. Diese Distinction ist nicht
so spitzfindig und überflüssig, wie sie vielleicht scheint; sie

V. Ueber das Wesen des Organischen.
fertige, angeborene Mechanismen hielt, obgleich er in einem
Hinweis auf das Verhalten in pathologischen Fällen schon den
richtigen Weg betreten hatte. Wir sind aber keine »Spieldosen
mit Tausend oder Millionen Liedern, welche auf Millionen mög-
licher Weise im Laufe des Lebens eintretender Bedürfnisse be-
rechnet und eingestellt sind«, mit denen er uns vergleicht, son-
dern wir sind Einrichtungen, welche jeden Tag neue Lieder
lernen können. Wie sich ein witziger Kopf, welcher in jeder
Situation sofort das Wesentliche erfasst und geistreich pointirt zum
Ausdrucke bringt, unterscheidet von einem blossen Colporteur
von Witzen, der aus seinem angesammelten Vorrath den für
die Situation passendsten aussucht, oder wie sich der richtige
Arzt, welcher für jeden Krankheitsfall nach den individuellen
Umständen desselben seine Ordination einrichtet, unterscheidet
von dem blossen Routinier, der jeden Tag seine auswendig
gelernten 50 Recepte immer von neuem an das kranke Publi-
kum verkauft, ebenso unterscheidet sich der thierische Orga-
nismus von einem fertigen Mechanismus, selbst von einem sol-
chen mit Selbststeuerung.

Dieser letztere Ausdruck ist eigentlich die richtige Be-
zeichnung für die Auffassung, welche Pflüger’s Arbeit zu
Grunde liegt, nicht aber Selbstregulation. Die Selbststeuerung
ist eine Selbstregulation, welche für eine bestimmte Variations-
breite nach beiden Seiten von einem bestimmten Mittelpunkte
hin eingerichtet ist; der Organismus aber hat Selbstregulatio-
nen allgemeinsten Charakters, bei denen nach einiger Zeit des
Verharrens in einer abweichenden Lage diese letztere zum Mit-
telpunkt der neuen Variationsbreite wird; und wenn die Ab-
weichung immer nach Einer Seite hin weiter fortgeht, so kann
der neue Mittelpunkt viel seitwärts abliegen von dem Maximum
der ursprünglichen Variationsbreite. Diese Distinction ist nicht
so spitzfindig und überflüssig, wie sie vielleicht scheint; sie

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[229/0243] V. Ueber das Wesen des Organischen. fertige, angeborene Mechanismen hielt, obgleich er in einem Hinweis auf das Verhalten in pathologischen Fällen schon den richtigen Weg betreten hatte. Wir sind aber keine »Spieldosen mit Tausend oder Millionen Liedern, welche auf Millionen mög- licher Weise im Laufe des Lebens eintretender Bedürfnisse be- rechnet und eingestellt sind«, mit denen er uns vergleicht, son- dern wir sind Einrichtungen, welche jeden Tag neue Lieder lernen können. Wie sich ein witziger Kopf, welcher in jeder Situation sofort das Wesentliche erfasst und geistreich pointirt zum Ausdrucke bringt, unterscheidet von einem blossen Colporteur von Witzen, der aus seinem angesammelten Vorrath den für die Situation passendsten aussucht, oder wie sich der richtige Arzt, welcher für jeden Krankheitsfall nach den individuellen Umständen desselben seine Ordination einrichtet, unterscheidet von dem blossen Routinier, der jeden Tag seine auswendig gelernten 50 Recepte immer von neuem an das kranke Publi- kum verkauft, ebenso unterscheidet sich der thierische Orga- nismus von einem fertigen Mechanismus, selbst von einem sol- chen mit Selbststeuerung. Dieser letztere Ausdruck ist eigentlich die richtige Be- zeichnung für die Auffassung, welche Pflüger’s Arbeit zu Grunde liegt, nicht aber Selbstregulation. Die Selbststeuerung ist eine Selbstregulation, welche für eine bestimmte Variations- breite nach beiden Seiten von einem bestimmten Mittelpunkte hin eingerichtet ist; der Organismus aber hat Selbstregulatio- nen allgemeinsten Charakters, bei denen nach einiger Zeit des Verharrens in einer abweichenden Lage diese letztere zum Mit- telpunkt der neuen Variationsbreite wird; und wenn die Ab- weichung immer nach Einer Seite hin weiter fortgeht, so kann der neue Mittelpunkt viel seitwärts abliegen von dem Maximum der ursprünglichen Variationsbreite. Diese Distinction ist nicht so spitzfindig und überflüssig, wie sie vielleicht scheint; sie

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Zitationshilfe: Roux, Wilhelm: Der Kampf der Teile des Organismus. Leipzig, 1881, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/roux_kampf_1881/243>, abgerufen am 27.04.2024.