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Roux, Wilhelm: Der Kampf der Teile des Organismus. Leipzig, 1881.

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V. Ueber das Wesen des Organischen.

Ist dagegen der Process derartig, dass für ihn der
Reiz unentbehrlicher Lebensreiz geworden ist
,
ohne dessen Einwirkung nicht nur nicht die Leistung, sondern
auch nicht die Assimilation gehörig vor sich geht, so wird dieser
Process blos dann Chancen der Erhaltung haben, wenn dieser
Reiz sehr oft einwirkt, wenn die Kräftigung fort und fort erfolgt
und die Uebercompensation nach der Thätigkeit gross genug
ist, um auch während der Ruhe längere Zeit auszuhalten. Es
wird auch nöthig sein, dass schon die häufiger vorkommenden
schwächeren Reize die Assimilation zu erregen im Stande sind.
Bei dauerndem Fehlen des Reizes wird in Folge der mangeln-
den Erregung der Assimilation Inactivitätsatrophie eintreten,
bestehend in ungenügendem Wiederersatz des ohne Function
allmählich selber verzehrten.

Diese Art Process ist somit an bestimmtere Existenzbe-
dingungen gebunden, als die vorige, und wird daher von be-
schränkterem Vorkommen in der ganzen Thierreihe und eventuell
auch im einzelnen Organismus sein.

Aber sie hat Eigenschaften, welche ihr im Kampf um's
Dasein einen grossen Vorzug geben. Sie stellt innerhalb der
vollkommensten Selbstregulation der Leistungsfähigkeit zugleich
die grösste Sparsamkeit mit dem Material dar, indem diejenigen
Theile, welche gebraucht werden, immer nach dem Maasse
ihres Gebrauches gestärkt und vergrössert werden, während die
nicht mehr gebrauchten der Rückbildung verfallen und das
Material für ihre Erhaltung erspart wird. Diese Art der Pro-
cesse stellt somit die höchste Oeconomie dar bei der höchsten
Leistungsfähigkeit des Ganzen, aber auf Kosten der Selbständig-
keit der Theile, die hier vollkommen aufgehört hat. Die Theile
leben hier blos von der Function, welche sie dem Ganzen
leisten, sie sind wie Staatsdiener, welche allmählich vollkommen
blos Beamte geworden sind, gar keine Interessen mehr für sich

V. Ueber das Wesen des Organischen.

Ist dagegen der Process derartig, dass für ihn der
Reiz unentbehrlicher Lebensreiz geworden ist
,
ohne dessen Einwirkung nicht nur nicht die Leistung, sondern
auch nicht die Assimilation gehörig vor sich geht, so wird dieser
Process blos dann Chancen der Erhaltung haben, wenn dieser
Reiz sehr oft einwirkt, wenn die Kräftigung fort und fort erfolgt
und die Uebercompensation nach der Thätigkeit gross genug
ist, um auch während der Ruhe längere Zeit auszuhalten. Es
wird auch nöthig sein, dass schon die häufiger vorkommenden
schwächeren Reize die Assimilation zu erregen im Stande sind.
Bei dauerndem Fehlen des Reizes wird in Folge der mangeln-
den Erregung der Assimilation Inactivitätsatrophie eintreten,
bestehend in ungenügendem Wiederersatz des ohne Function
allmählich selber verzehrten.

Diese Art Process ist somit an bestimmtere Existenzbe-
dingungen gebunden, als die vorige, und wird daher von be-
schränkterem Vorkommen in der ganzen Thierreihe und eventuell
auch im einzelnen Organismus sein.

Aber sie hat Eigenschaften, welche ihr im Kampf um’s
Dasein einen grossen Vorzug geben. Sie stellt innerhalb der
vollkommensten Selbstregulation der Leistungsfähigkeit zugleich
die grösste Sparsamkeit mit dem Material dar, indem diejenigen
Theile, welche gebraucht werden, immer nach dem Maasse
ihres Gebrauches gestärkt und vergrössert werden, während die
nicht mehr gebrauchten der Rückbildung verfallen und das
Material für ihre Erhaltung erspart wird. Diese Art der Pro-
cesse stellt somit die höchste Oeconomie dar bei der höchsten
Leistungsfähigkeit des Ganzen, aber auf Kosten der Selbständig-
keit der Theile, die hier vollkommen aufgehört hat. Die Theile
leben hier blos von der Function, welche sie dem Ganzen
leisten, sie sind wie Staatsdiener, welche allmählich vollkommen
blos Beamte geworden sind, gar keine Interessen mehr für sich

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[224/0238] V. Ueber das Wesen des Organischen. Ist dagegen der Process derartig, dass für ihn der Reiz unentbehrlicher Lebensreiz geworden ist, ohne dessen Einwirkung nicht nur nicht die Leistung, sondern auch nicht die Assimilation gehörig vor sich geht, so wird dieser Process blos dann Chancen der Erhaltung haben, wenn dieser Reiz sehr oft einwirkt, wenn die Kräftigung fort und fort erfolgt und die Uebercompensation nach der Thätigkeit gross genug ist, um auch während der Ruhe längere Zeit auszuhalten. Es wird auch nöthig sein, dass schon die häufiger vorkommenden schwächeren Reize die Assimilation zu erregen im Stande sind. Bei dauerndem Fehlen des Reizes wird in Folge der mangeln- den Erregung der Assimilation Inactivitätsatrophie eintreten, bestehend in ungenügendem Wiederersatz des ohne Function allmählich selber verzehrten. Diese Art Process ist somit an bestimmtere Existenzbe- dingungen gebunden, als die vorige, und wird daher von be- schränkterem Vorkommen in der ganzen Thierreihe und eventuell auch im einzelnen Organismus sein. Aber sie hat Eigenschaften, welche ihr im Kampf um’s Dasein einen grossen Vorzug geben. Sie stellt innerhalb der vollkommensten Selbstregulation der Leistungsfähigkeit zugleich die grösste Sparsamkeit mit dem Material dar, indem diejenigen Theile, welche gebraucht werden, immer nach dem Maasse ihres Gebrauches gestärkt und vergrössert werden, während die nicht mehr gebrauchten der Rückbildung verfallen und das Material für ihre Erhaltung erspart wird. Diese Art der Pro- cesse stellt somit die höchste Oeconomie dar bei der höchsten Leistungsfähigkeit des Ganzen, aber auf Kosten der Selbständig- keit der Theile, die hier vollkommen aufgehört hat. Die Theile leben hier blos von der Function, welche sie dem Ganzen leisten, sie sind wie Staatsdiener, welche allmählich vollkommen blos Beamte geworden sind, gar keine Interessen mehr für sich

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Zitationshilfe: Roux, Wilhelm: Der Kampf der Teile des Organismus. Leipzig, 1881, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/roux_kampf_1881/238>, abgerufen am 27.04.2024.