Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Roux, Wilhelm: Der Kampf der Teile des Organismus. Leipzig, 1881.

Bild:
<< vorherige Seite

IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
Ausbildung der Theile hervorgerufen worden, und wir hatten
im II. Kapitel Veranlassung zu der Annahme erhalten, dass
auch zur gegenwärtigen formalen Ausbildung im embryonalen
und postembryonalen Leben der functionelle Reiz für viele
Theile, besonders für die Stützorgane unentbehrlich ist. Aber
daraus erhalten wir keinen Anhaltepunkt zur Beurtheilung
darüber, ob bei der gegenwärtigen embryonalen Entwickelung
die embryonale Selbständigkeit der Theile von selber aufhört,
weil durch Vererbung die Phylogenese in der Ontogenese von
selber sich wiederholt, oder ob die selbständige Erhaltungs-
fähigkeit der Theile auch im Embryo erst durch die Einwir-
kung der functionellen Reize, also unter Züchtung von Reiz-
substanzen stattfindet.

Sei das eine oder das andere richtig, so ist es verständ-
lich, dass pathologische, also neue Knochenbildungen, Exostosen
etc., mögen sie schon im Embryo sich ausbilden, oder erst
später aus Resten embryonaler Substanz sich entwickeln, selbst-
erhaltungsfähig sind, da sie keine Wiederholung phylogene-
tischer Aequivalente darstellen und selber nicht unter Reizein-
wirkung kommen. So können Exostosen lebenslang an einem
Knochen unverändert sitzen, welcher selber bei Inactivität der
beträchtlichsten Atrophie unterliegen würde.

Ebenso ist es verständlich, dass Drüsentheile, welche nie
stark activ waren, welche vielleicht blos abgeschnürte Deck-
epithelien sind, wie der Hirnanhang, die Zirbeldrüse und die
Schilddrüse, auch nach Aufhebung ihrer Function, also ohne
dass sie noch wie sonst von dem Oberflächenreiz getroffen wer-
den, dauernd leben bleiben, während andere, thätige Drüsen
nach vollkommener Reizentziehung schon in wenig Wochen
gänzlich atrophiren.

Durch die Reizeinwirkung werden wir also abhängig von
derselben, wie die Pflanzen abhängig vom Lichte sind und ohne

12*

IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.
Ausbildung der Theile hervorgerufen worden, und wir hatten
im II. Kapitel Veranlassung zu der Annahme erhalten, dass
auch zur gegenwärtigen formalen Ausbildung im embryonalen
und postembryonalen Leben der functionelle Reiz für viele
Theile, besonders für die Stützorgane unentbehrlich ist. Aber
daraus erhalten wir keinen Anhaltepunkt zur Beurtheilung
darüber, ob bei der gegenwärtigen embryonalen Entwickelung
die embryonale Selbständigkeit der Theile von selber aufhört,
weil durch Vererbung die Phylogenese in der Ontogenese von
selber sich wiederholt, oder ob die selbständige Erhaltungs-
fähigkeit der Theile auch im Embryo erst durch die Einwir-
kung der functionellen Reize, also unter Züchtung von Reiz-
substanzen stattfindet.

Sei das eine oder das andere richtig, so ist es verständ-
lich, dass pathologische, also neue Knochenbildungen, Exostosen
etc., mögen sie schon im Embryo sich ausbilden, oder erst
später aus Resten embryonaler Substanz sich entwickeln, selbst-
erhaltungsfähig sind, da sie keine Wiederholung phylogene-
tischer Aequivalente darstellen und selber nicht unter Reizein-
wirkung kommen. So können Exostosen lebenslang an einem
Knochen unverändert sitzen, welcher selber bei Inactivität der
beträchtlichsten Atrophie unterliegen würde.

Ebenso ist es verständlich, dass Drüsentheile, welche nie
stark activ waren, welche vielleicht blos abgeschnürte Deck-
epithelien sind, wie der Hirnanhang, die Zirbeldrüse und die
Schilddrüse, auch nach Aufhebung ihrer Function, also ohne
dass sie noch wie sonst von dem Oberflächenreiz getroffen wer-
den, dauernd leben bleiben, während andere, thätige Drüsen
nach vollkommener Reizentziehung schon in wenig Wochen
gänzlich atrophiren.

Durch die Reizeinwirkung werden wir also abhängig von
derselben, wie die Pflanzen abhängig vom Lichte sind und ohne

12*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0193" n="179"/><fw place="top" type="header">IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.</fw><lb/>
Ausbildung der Theile hervorgerufen worden, und wir hatten<lb/>
im II. Kapitel Veranlassung zu der Annahme erhalten, dass<lb/>
auch zur gegenwärtigen formalen Ausbildung im embryonalen<lb/>
und postembryonalen Leben der functionelle Reiz für viele<lb/>
Theile, besonders für die Stützorgane unentbehrlich ist. Aber<lb/>
daraus erhalten wir keinen Anhaltepunkt zur Beurtheilung<lb/>
darüber, ob bei der gegenwärtigen embryonalen Entwickelung<lb/>
die embryonale Selbständigkeit der Theile von selber aufhört,<lb/>
weil durch Vererbung die Phylogenese in der Ontogenese von<lb/>
selber sich wiederholt, oder ob die selbständige Erhaltungs-<lb/>
fähigkeit der Theile auch im Embryo erst durch die Einwir-<lb/>
kung der functionellen Reize, also unter Züchtung von Reiz-<lb/>
substanzen stattfindet.</p><lb/>
        <p>Sei das eine oder das andere richtig, so ist es verständ-<lb/>
lich, dass pathologische, also neue Knochenbildungen, Exostosen<lb/>
etc., mögen sie schon im Embryo sich ausbilden, oder erst<lb/>
später aus Resten embryonaler Substanz sich entwickeln, selbst-<lb/>
erhaltungsfähig sind, da sie keine Wiederholung phylogene-<lb/>
tischer Aequivalente darstellen und selber nicht unter Reizein-<lb/>
wirkung kommen. So können Exostosen lebenslang an einem<lb/>
Knochen unverändert sitzen, welcher selber bei Inactivität der<lb/>
beträchtlichsten Atrophie unterliegen würde.</p><lb/>
        <p>Ebenso ist es verständlich, dass Drüsentheile, welche nie<lb/>
stark activ waren, welche vielleicht blos abgeschnürte Deck-<lb/>
epithelien sind, wie der Hirnanhang, die Zirbeldrüse und die<lb/>
Schilddrüse, auch nach Aufhebung ihrer Function, also ohne<lb/>
dass sie noch wie sonst von dem Oberflächenreiz getroffen wer-<lb/>
den, dauernd leben bleiben, während andere, <hi rendition="#g">thätige</hi> Drüsen<lb/>
nach vollkommener Reizentziehung schon in wenig Wochen<lb/>
gänzlich atrophiren.</p><lb/>
        <p>Durch die Reizeinwirkung werden wir also abhängig von<lb/>
derselben, wie die Pflanzen abhängig vom Lichte sind und ohne<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">12*</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[179/0193] IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize. Ausbildung der Theile hervorgerufen worden, und wir hatten im II. Kapitel Veranlassung zu der Annahme erhalten, dass auch zur gegenwärtigen formalen Ausbildung im embryonalen und postembryonalen Leben der functionelle Reiz für viele Theile, besonders für die Stützorgane unentbehrlich ist. Aber daraus erhalten wir keinen Anhaltepunkt zur Beurtheilung darüber, ob bei der gegenwärtigen embryonalen Entwickelung die embryonale Selbständigkeit der Theile von selber aufhört, weil durch Vererbung die Phylogenese in der Ontogenese von selber sich wiederholt, oder ob die selbständige Erhaltungs- fähigkeit der Theile auch im Embryo erst durch die Einwir- kung der functionellen Reize, also unter Züchtung von Reiz- substanzen stattfindet. Sei das eine oder das andere richtig, so ist es verständ- lich, dass pathologische, also neue Knochenbildungen, Exostosen etc., mögen sie schon im Embryo sich ausbilden, oder erst später aus Resten embryonaler Substanz sich entwickeln, selbst- erhaltungsfähig sind, da sie keine Wiederholung phylogene- tischer Aequivalente darstellen und selber nicht unter Reizein- wirkung kommen. So können Exostosen lebenslang an einem Knochen unverändert sitzen, welcher selber bei Inactivität der beträchtlichsten Atrophie unterliegen würde. Ebenso ist es verständlich, dass Drüsentheile, welche nie stark activ waren, welche vielleicht blos abgeschnürte Deck- epithelien sind, wie der Hirnanhang, die Zirbeldrüse und die Schilddrüse, auch nach Aufhebung ihrer Function, also ohne dass sie noch wie sonst von dem Oberflächenreiz getroffen wer- den, dauernd leben bleiben, während andere, thätige Drüsen nach vollkommener Reizentziehung schon in wenig Wochen gänzlich atrophiren. Durch die Reizeinwirkung werden wir also abhängig von derselben, wie die Pflanzen abhängig vom Lichte sind und ohne 12*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/roux_kampf_1881
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/roux_kampf_1881/193
Zitationshilfe: Roux, Wilhelm: Der Kampf der Teile des Organismus. Leipzig, 1881, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/roux_kampf_1881/193>, abgerufen am 02.05.2024.