und Natur etwas vorauszuschicken, als der Baum in einem so beliebten Zweige der darstellenden Kunst die hervorragendste Rolle spielt.
"Kunst und Natur, oder Natur und Kunst? Man weiß nicht, welches man vor, welches hinter setzen soll. Beide stehen so dicht neben einander, durchdringen einander vielmehr so innig, daß man eben diesem Zweifel verfällt.
Dennoch werden beide oft als Gegensätze gebraucht; vielleicht miß- braucht.
"Dies ist recht natürlich gemalt." In diesem oft gehörten Satze liegt ein Verlangen nach Harmonie zwischen Kunst und Natur.
"Diese Aussicht giebt ein schönes Bild," oder "Dieser Blumen- strauß ist wie gemalt" -- will sagen, daß die Kunst, wie sie sich in dem geläuterten Geschmack des Gebildeten ausgeprägt hat, sich das Recht der Kritik über die Natur vorbehält.
"Diese Körperhaltung ist unnatürlich," oder gesteigert: "widernatür- lich" -- dies setzt die Natur in ihr Oberhoheitsrecht.
Auch der Sprachgebrauch, der nicht blos ein Tyrann, sondern ebenso oft, ohne daß wir daran denken, ein scharfer Logiker ist, unterscheidet auf dem Gebiete des Künstlichen, d. h. des von Menschenhand Gemachten, gegenüber dem Natürlichen in vielen Fällen sehr klar. Bekanntlich wird in dem eben angegebenen Sinne anstatt Künstlich oft auch Falsch an- gewendet. Beide aber werden darum noch nicht für alle Anwendungsfälle gleichbedeutend.
Wir sagen falsche Zähne, falsche Locken, nicht künstliche Zähne, künstliche Locken, obgleich sie beide dieses sind, denn sie sind mit höchster Kunstfertigkeit der Natur möglichst treu nachgebildet; ebenso sagen wir falsche Diamanten. Nicht aber sagen wir falsche Blumen, sondern künst- liche Blumen; ein Invalid hat ein künstliches Bein, nicht ein falsches Bein. Woher diese Verschiedenheit? Offenbar daher, daß in die Be- zeichnung Falsch der Vorwurf gelegt werden soll, daß die als falsche be- zeichneten Dinge täuschen wollen. Die anderen wollen nicht täuschen; sie setzen sich anspruchslos und nur mit der Absicht, die fehlende Natur- wirklichkeit zu ersetzen, an die Stelle dieser, und beanspruchen und haben einen Eigenwerth. Die falschen Dinge haben ihren Werth nur in der Täuschung.
und Natur etwas vorauszuſchicken, als der Baum in einem ſo beliebten Zweige der darſtellenden Kunſt die hervorragendſte Rolle ſpielt.
„Kunſt und Natur, oder Natur und Kunſt? Man weiß nicht, welches man vor, welches hinter ſetzen ſoll. Beide ſtehen ſo dicht neben einander, durchdringen einander vielmehr ſo innig, daß man eben dieſem Zweifel verfällt.
Dennoch werden beide oft als Gegenſätze gebraucht; vielleicht miß- braucht.
„Dies iſt recht natürlich gemalt.“ In dieſem oft gehörten Satze liegt ein Verlangen nach Harmonie zwiſchen Kunſt und Natur.
„Dieſe Ausſicht giebt ein ſchönes Bild,“ oder „Dieſer Blumen- ſtrauß iſt wie gemalt“ — will ſagen, daß die Kunſt, wie ſie ſich in dem geläuterten Geſchmack des Gebildeten ausgeprägt hat, ſich das Recht der Kritik über die Natur vorbehält.
„Dieſe Körperhaltung iſt unnatürlich,“ oder geſteigert: „widernatür- lich“ — dies ſetzt die Natur in ihr Oberhoheitsrecht.
Auch der Sprachgebrauch, der nicht blos ein Tyrann, ſondern ebenſo oft, ohne daß wir daran denken, ein ſcharfer Logiker iſt, unterſcheidet auf dem Gebiete des Künſtlichen, d. h. des von Menſchenhand Gemachten, gegenüber dem Natürlichen in vielen Fällen ſehr klar. Bekanntlich wird in dem eben angegebenen Sinne anſtatt Künſtlich oft auch Falſch an- gewendet. Beide aber werden darum noch nicht für alle Anwendungsfälle gleichbedeutend.
Wir ſagen falſche Zähne, falſche Locken, nicht künſtliche Zähne, künſtliche Locken, obgleich ſie beide dieſes ſind, denn ſie ſind mit höchſter Kunſtfertigkeit der Natur möglichſt treu nachgebildet; ebenſo ſagen wir falſche Diamanten. Nicht aber ſagen wir falſche Blumen, ſondern künſt- liche Blumen; ein Invalid hat ein künſtliches Bein, nicht ein falſches Bein. Woher dieſe Verſchiedenheit? Offenbar daher, daß in die Be- zeichnung Falſch der Vorwurf gelegt werden ſoll, daß die als falſche be- zeichneten Dinge täuſchen wollen. Die anderen wollen nicht täuſchen; ſie ſetzen ſich anſpruchslos und nur mit der Abſicht, die fehlende Natur- wirklichkeit zu erſetzen, an die Stelle dieſer, und beanſpruchen und haben einen Eigenwerth. Die falſchen Dinge haben ihren Werth nur in der Täuſchung.
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Zweige der darſtellenden Kunſt die hervorragendſte Rolle ſpielt.
„Kunſt und Natur, oder Natur und Kunſt? Man weiß nicht, welches
man vor, welches hinter ſetzen ſoll. Beide ſtehen ſo dicht neben einander,
durchdringen einander vielmehr ſo innig, daß man eben dieſem Zweifel
verfällt.
Dennoch werden beide oft als Gegenſätze gebraucht; vielleicht miß-
braucht.
„Dies iſt recht natürlich gemalt.“ In dieſem oft gehörten Satze
liegt ein Verlangen nach Harmonie zwiſchen Kunſt und Natur.
„Dieſe Ausſicht giebt ein ſchönes Bild,“ oder „Dieſer Blumen-
ſtrauß iſt wie gemalt“ — will ſagen, daß die Kunſt, wie ſie ſich in dem
geläuterten Geſchmack des Gebildeten ausgeprägt hat, ſich das Recht der
Kritik über die Natur vorbehält.
„Dieſe Körperhaltung iſt unnatürlich,“ oder geſteigert: „widernatür-
lich“ — dies ſetzt die Natur in ihr Oberhoheitsrecht.
Auch der Sprachgebrauch, der nicht blos ein Tyrann, ſondern ebenſo
oft, ohne daß wir daran denken, ein ſcharfer Logiker iſt, unterſcheidet auf
dem Gebiete des Künſtlichen, d. h. des von Menſchenhand Gemachten,
gegenüber dem Natürlichen in vielen Fällen ſehr klar. Bekanntlich wird
in dem eben angegebenen Sinne anſtatt Künſtlich oft auch Falſch an-
gewendet. Beide aber werden darum noch nicht für alle Anwendungsfälle
gleichbedeutend.
Wir ſagen falſche Zähne, falſche Locken, nicht künſtliche Zähne,
künſtliche Locken, obgleich ſie beide dieſes ſind, denn ſie ſind mit höchſter
Kunſtfertigkeit der Natur möglichſt treu nachgebildet; ebenſo ſagen wir
falſche Diamanten. Nicht aber ſagen wir falſche Blumen, ſondern künſt-
liche Blumen; ein Invalid hat ein künſtliches Bein, nicht ein falſches
Bein. Woher dieſe Verſchiedenheit? Offenbar daher, daß in die Be-
zeichnung Falſch der Vorwurf gelegt werden ſoll, daß die als falſche be-
zeichneten Dinge täuſchen wollen. Die anderen wollen nicht täuſchen;
ſie ſetzen ſich anſpruchslos und nur mit der Abſicht, die fehlende Natur-
wirklichkeit zu erſetzen, an die Stelle dieſer, und beanſpruchen und haben
einen Eigenwerth. Die falſchen Dinge haben ihren Werth nur in der
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Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863/74>, abgerufen am 21.11.2024.
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