man eben einen Vorwurf machen -- daß in uns die sprichwörtliche Redensart sich umkehrt, "daß wir vor dem Walde die Bäume nicht sehen."
Das Ordnungslose, das Ungebundene, das unbändig Kühne, was uns sonst so oft verwirrt und verletzt: im Wald erhält es Berechtigung und wirkt in uns gegentheilig; es erzeugt in uns jenen ahnungsvollen Schauer, den nur die Natur in ihrer Größe hervorzurufen vermag. Es ist nicht ein einzelner Sinn, den wir angeregt fühlen; alle Sinne wölben sich zu Einer weitgespannten Pforte, durch welche das erhabene Waldbild in unser Inneres einzieht.
Indem wir uns dessen bewußt werden, so wäre es jetzt eine pedan- tische Entweihung, wollten wir den Wald in seine Einzelheiten zerlegen. Die Titelfrage ist darum auch nicht deshalb aufgeworfen, um nun mit dem kalten Messer des Zergliederers den Wald in seine Theile zu zerlegen; sie will nichts weiter, als uns zwingen, einmal mehr als es gewöhnlich geschieht, uns zu erinnern, daß eben nicht blos die Bäume es sind, daß es überhaupt nicht blos einzelne Dinge sind, welche uns den Wald bilden; sondern daß uns der Wald eine Erscheinung ist, so reich und manchfaltig, daß wir, indem wir uns ihr hingeben, an ihre Zergliederung gar nicht denken und kaum inne werden, wie uns geschieht, wenn sich der Wald unseres Gemüthes ganz und voll bemächtigt.
In dieser Auffassung möchte es scheinen, als gehöre der Wald nur dem Dichter und dem Maler, und wir merken eben, daß Inhalt und Aufgabe dieses kleinen Abschnittes in der Hauptsache eben in der Anerken- nung dieses Eigenthums-Rechts aufgeht.
Aber sind denn Dichter und Maler und der Forscher so von einander getrennt, daß deren beiderseitige Besitztitel am Walde auf verschiedenen Papieren geschrieben sind? Nimmermehr. Die Natur ist ja eben die große Versöhnerin, welche die auseinanderstrebenden Wege menschlicher Thätigkeit auf Einen Punkt zusammenruft. Der Dichter, in dem sich nichts vom Maler, nichts vom Forscher regt, der Forscher, dem die Empfindungen des Dichters und Malers fremd sind, sind keine echten Söhne der Natur.
Es ist eine von den Aufgaben unserer Arbeit, diesen Zwiespalt zwischen Dichter, Maler und Naturforscher zu versöhnen, und nirgends kann dies erfolgreicher geschehen, kein Ort ist dazu würdiger angethan als der Wald.
man eben einen Vorwurf machen — daß in uns die ſprichwörtliche Redensart ſich umkehrt, „daß wir vor dem Walde die Bäume nicht ſehen.“
Das Ordnungsloſe, das Ungebundene, das unbändig Kühne, was uns ſonſt ſo oft verwirrt und verletzt: im Wald erhält es Berechtigung und wirkt in uns gegentheilig; es erzeugt in uns jenen ahnungsvollen Schauer, den nur die Natur in ihrer Größe hervorzurufen vermag. Es iſt nicht ein einzelner Sinn, den wir angeregt fühlen; alle Sinne wölben ſich zu Einer weitgeſpannten Pforte, durch welche das erhabene Waldbild in unſer Inneres einzieht.
Indem wir uns deſſen bewußt werden, ſo wäre es jetzt eine pedan- tiſche Entweihung, wollten wir den Wald in ſeine Einzelheiten zerlegen. Die Titelfrage iſt darum auch nicht deshalb aufgeworfen, um nun mit dem kalten Meſſer des Zergliederers den Wald in ſeine Theile zu zerlegen; ſie will nichts weiter, als uns zwingen, einmal mehr als es gewöhnlich geſchieht, uns zu erinnern, daß eben nicht blos die Bäume es ſind, daß es überhaupt nicht blos einzelne Dinge ſind, welche uns den Wald bilden; ſondern daß uns der Wald eine Erſcheinung iſt, ſo reich und manchfaltig, daß wir, indem wir uns ihr hingeben, an ihre Zergliederung gar nicht denken und kaum inne werden, wie uns geſchieht, wenn ſich der Wald unſeres Gemüthes ganz und voll bemächtigt.
In dieſer Auffaſſung möchte es ſcheinen, als gehöre der Wald nur dem Dichter und dem Maler, und wir merken eben, daß Inhalt und Aufgabe dieſes kleinen Abſchnittes in der Hauptſache eben in der Anerken- nung dieſes Eigenthums-Rechts aufgeht.
Aber ſind denn Dichter und Maler und der Forſcher ſo von einander getrennt, daß deren beiderſeitige Beſitztitel am Walde auf verſchiedenen Papieren geſchrieben ſind? Nimmermehr. Die Natur iſt ja eben die große Verſöhnerin, welche die auseinanderſtrebenden Wege menſchlicher Thätigkeit auf Einen Punkt zuſammenruft. Der Dichter, in dem ſich nichts vom Maler, nichts vom Forſcher regt, der Forſcher, dem die Empfindungen des Dichters und Malers fremd ſind, ſind keine echten Söhne der Natur.
Es iſt eine von den Aufgaben unſerer Arbeit, dieſen Zwieſpalt zwiſchen Dichter, Maler und Naturforſcher zu verſöhnen, und nirgends kann dies erfolgreicher geſchehen, kein Ort iſt dazu würdiger angethan als der Wald.
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man eben einen Vorwurf machen — daß in uns die ſprichwörtliche Redensart
ſich umkehrt, „daß wir vor dem Walde die Bäume nicht ſehen.“
Das Ordnungsloſe, das Ungebundene, das unbändig Kühne, was uns
ſonſt ſo oft verwirrt und verletzt: im Wald erhält es Berechtigung und
wirkt in uns gegentheilig; es erzeugt in uns jenen ahnungsvollen Schauer,
den nur die Natur in ihrer Größe hervorzurufen vermag. Es iſt nicht
ein einzelner Sinn, den wir angeregt fühlen; alle Sinne wölben ſich zu
Einer weitgeſpannten Pforte, durch welche das erhabene Waldbild in unſer
Inneres einzieht.
Indem wir uns deſſen bewußt werden, ſo wäre es jetzt eine pedan-
tiſche Entweihung, wollten wir den Wald in ſeine Einzelheiten zerlegen.
Die Titelfrage iſt darum auch nicht deshalb aufgeworfen, um nun mit
dem kalten Meſſer des Zergliederers den Wald in ſeine Theile zu zerlegen;
ſie will nichts weiter, als uns zwingen, einmal mehr als es gewöhnlich
geſchieht, uns zu erinnern, daß eben nicht blos die Bäume es ſind, daß
es überhaupt nicht blos einzelne Dinge ſind, welche uns den Wald bilden;
ſondern daß uns der Wald eine Erſcheinung iſt, ſo reich und manchfaltig,
daß wir, indem wir uns ihr hingeben, an ihre Zergliederung gar nicht
denken und kaum inne werden, wie uns geſchieht, wenn ſich der Wald
unſeres Gemüthes ganz und voll bemächtigt.
In dieſer Auffaſſung möchte es ſcheinen, als gehöre der Wald nur
dem Dichter und dem Maler, und wir merken eben, daß Inhalt und
Aufgabe dieſes kleinen Abſchnittes in der Hauptſache eben in der Anerken-
nung dieſes Eigenthums-Rechts aufgeht.
Aber ſind denn Dichter und Maler und der Forſcher ſo von einander
getrennt, daß deren beiderſeitige Beſitztitel am Walde auf verſchiedenen
Papieren geſchrieben ſind? Nimmermehr. Die Natur iſt ja eben die
große Verſöhnerin, welche die auseinanderſtrebenden Wege menſchlicher
Thätigkeit auf Einen Punkt zuſammenruft. Der Dichter, in dem ſich
nichts vom Maler, nichts vom Forſcher regt, der Forſcher, dem die
Empfindungen des Dichters und Malers fremd ſind, ſind keine echten
Söhne der Natur.
Es iſt eine von den Aufgaben unſerer Arbeit, dieſen Zwieſpalt zwiſchen
Dichter, Maler und Naturforſcher zu verſöhnen, und nirgends kann dies
erfolgreicher geſchehen, kein Ort iſt dazu würdiger angethan als der Wald.
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Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863/34>, abgerufen am 04.12.2024.
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