des behaupteten Unterschiedes darin beschlichen. Wächst denn ein Blatt, welches in der werdenden Knospe als höchst einfache Anlage sich bildete, bis zu seiner vollendeten Entfaltung nicht ebenso wie das Thier, d. h. in allen seinen Theilen so zu sagen "von innen heraus, innen, außen, überall", (wie wir es vorhin bezeichneten)? Wenigstens sehr ähnlich. Aber das gilt eben allerdings zwar von den Blattgebilden, aber nicht von dem ganzen Baume. Und nun fällt uns ein, was wir im 3. Abschnitt von der Individualität im Pflanzenreiche urtheilten. Das Pferd ist ein Individuum und hat darum auch ein ungetrenntes in sich abgeschlossenes, den ganzen Leib so zu sagen durchdringendes Wachsthum und da es lange Zeit lebt und dabei alle seine Organe als eine bis auf den einzelsten Geweb- theil derselben innig geschlossene Lebenserscheinung wirken, so setzt dies den Stoffwechsel mit Nothwendigkeit voraus. Wenn nun der Baum diese Erscheinungen nicht zeigt, im Gegentheil die aufgenommenen Nahrungs- stoffe nur Wiederholungen von periodisch Verlorenem (Blätter) und Zu- sätze zu bereits vorhandenem Bleibendem (Stamm- und Wurzelgebilde) hervorbringen, so finden wir hierin nur eine physiologische Begründung unserer damals gewonnenen Ansicht, daß der Baum eben kein Individuum ist. Wenn meine Leser diese Andeutungen im Auge behalten, so werden sie auf ihren Waldgängen das Baumleben immer richtiger verstehen und eine Menge einzelne Erscheinungen an den Bäumen richtig würdigen lernen, die ihnen bisher vielleicht entgingen.
So steht z. B. die Wiedererzeugung, Reproduktion auf normalem Wege (Laubfall) oder gewaltsamer Weise verlorener Theile eines Baumes mit diesem Umstande, daß der Baum kein Individuum ist, in vollständigem Einklange und ist in diesem Sinne deshalb von der thierischen Reproduktion wesentlich verschieden. Der von Spallanzani an vielfach gemarterte Salamander reproducirt den abgeschnittenen Schwanz an derselben Stelle, aus der Wundfläche des stehen gebliebenen Schwanzstummels, weil eben das bildende Leben sich in allen Theilen, in jeder Gewebsmasse vertheilt findet. Ein durch Raupenfraß entlaubter Zweig reproducirt zwar auch neue Blätter, aber niemals an denselben Stellen, wo die alten standen, und wenn die Raupen Blattstielstummel stehen ließen, so wächst aus diesen kein neues Blatt heraus, sondern dies geschieht daneben entweder aus der bereits vorhandenen Knospe oder durch
des behaupteten Unterſchiedes darin beſchlichen. Wächſt denn ein Blatt, welches in der werdenden Knospe als höchſt einfache Anlage ſich bildete, bis zu ſeiner vollendeten Entfaltung nicht ebenſo wie das Thier, d. h. in allen ſeinen Theilen ſo zu ſagen „von innen heraus, innen, außen, überall“, (wie wir es vorhin bezeichneten)? Wenigſtens ſehr ähnlich. Aber das gilt eben allerdings zwar von den Blattgebilden, aber nicht von dem ganzen Baume. Und nun fällt uns ein, was wir im 3. Abſchnitt von der Individualität im Pflanzenreiche urtheilten. Das Pferd iſt ein Individuum und hat darum auch ein ungetrenntes in ſich abgeſchloſſenes, den ganzen Leib ſo zu ſagen durchdringendes Wachsthum und da es lange Zeit lebt und dabei alle ſeine Organe als eine bis auf den einzelſten Geweb- theil derſelben innig geſchloſſene Lebenserſcheinung wirken, ſo ſetzt dies den Stoffwechſel mit Nothwendigkeit voraus. Wenn nun der Baum dieſe Erſcheinungen nicht zeigt, im Gegentheil die aufgenommenen Nahrungs- ſtoffe nur Wiederholungen von periodiſch Verlorenem (Blätter) und Zu- ſätze zu bereits vorhandenem Bleibendem (Stamm- und Wurzelgebilde) hervorbringen, ſo finden wir hierin nur eine phyſiologiſche Begründung unſerer damals gewonnenen Anſicht, daß der Baum eben kein Individuum iſt. Wenn meine Leſer dieſe Andeutungen im Auge behalten, ſo werden ſie auf ihren Waldgängen das Baumleben immer richtiger verſtehen und eine Menge einzelne Erſcheinungen an den Bäumen richtig würdigen lernen, die ihnen bisher vielleicht entgingen.
So ſteht z. B. die Wiedererzeugung, Reproduktion auf normalem Wege (Laubfall) oder gewaltſamer Weiſe verlorener Theile eines Baumes mit dieſem Umſtande, daß der Baum kein Individuum iſt, in vollſtändigem Einklange und iſt in dieſem Sinne deshalb von der thieriſchen Reproduktion weſentlich verſchieden. Der von Spallanzani an vielfach gemarterte Salamander reproducirt den abgeſchnittenen Schwanz an derſelben Stelle, aus der Wundfläche des ſtehen gebliebenen Schwanzſtummels, weil eben das bildende Leben ſich in allen Theilen, in jeder Gewebsmaſſe vertheilt findet. Ein durch Raupenfraß entlaubter Zweig reproducirt zwar auch neue Blätter, aber niemals an denſelben Stellen, wo die alten ſtanden, und wenn die Raupen Blattſtielſtummel ſtehen ließen, ſo wächſt aus dieſen kein neues Blatt heraus, ſondern dies geſchieht daneben entweder aus der bereits vorhandenen Knospe oder durch
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des behaupteten Unterſchiedes darin beſchlichen. Wächſt denn ein Blatt,
welches in der werdenden Knospe als höchſt einfache Anlage ſich bildete,
bis zu ſeiner vollendeten Entfaltung nicht ebenſo wie das Thier, d. h. in
allen ſeinen Theilen ſo zu ſagen „von innen heraus, innen, außen,
überall“, (wie wir es vorhin bezeichneten)? Wenigſtens ſehr ähnlich.
Aber das gilt eben allerdings zwar von den Blattgebilden, aber nicht von
dem ganzen Baume. Und nun fällt uns ein, was wir im 3. Abſchnitt
von der Individualität im Pflanzenreiche urtheilten. Das Pferd iſt ein
Individuum und hat darum auch ein ungetrenntes in ſich abgeſchloſſenes, den
ganzen Leib ſo zu ſagen durchdringendes Wachsthum und da es lange
Zeit lebt und dabei alle ſeine Organe als eine bis auf den einzelſten Geweb-
theil derſelben innig geſchloſſene Lebenserſcheinung wirken, ſo ſetzt dies
den Stoffwechſel mit Nothwendigkeit voraus. Wenn nun der Baum
dieſe Erſcheinungen nicht zeigt, im Gegentheil die aufgenommenen Nahrungs-
ſtoffe nur Wiederholungen von periodiſch Verlorenem (Blätter) und Zu-
ſätze zu bereits vorhandenem Bleibendem (Stamm- und Wurzelgebilde)
hervorbringen, ſo finden wir hierin nur eine phyſiologiſche Begründung
unſerer damals gewonnenen Anſicht, daß der Baum eben kein Individuum
iſt. Wenn meine Leſer dieſe Andeutungen im Auge behalten, ſo werden
ſie auf ihren Waldgängen das Baumleben immer richtiger verſtehen
und eine Menge einzelne Erſcheinungen an den Bäumen richtig würdigen
lernen, die ihnen bisher vielleicht entgingen.
So ſteht z. B. die Wiedererzeugung, Reproduktion auf
normalem Wege (Laubfall) oder gewaltſamer Weiſe verlorener Theile
eines Baumes mit dieſem Umſtande, daß der Baum kein Individuum iſt,
in vollſtändigem Einklange und iſt in dieſem Sinne deshalb von der
thieriſchen Reproduktion weſentlich verſchieden. Der von Spallanzani an
vielfach gemarterte Salamander reproducirt den abgeſchnittenen Schwanz
an derſelben Stelle, aus der Wundfläche des ſtehen gebliebenen
Schwanzſtummels, weil eben das bildende Leben ſich in allen Theilen,
in jeder Gewebsmaſſe vertheilt findet. Ein durch Raupenfraß entlaubter
Zweig reproducirt zwar auch neue Blätter, aber niemals an denſelben
Stellen, wo die alten ſtanden, und wenn die Raupen Blattſtielſtummel
ſtehen ließen, ſo wächſt aus dieſen kein neues Blatt heraus, ſondern dies
geſchieht daneben entweder aus der bereits vorhandenen Knospe oder durch
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Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863/205>, abgerufen am 22.12.2024.
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