wodurch die Knospen der stehen gebliebenen Blätter genöthigt werden, dem Andrange des Nahrungssaftes sich zu öffnen und einen Trieb zu entwickeln. Darum treiben im Laub beschnittene Hecken immer eine Menge neue Triebe, welche ohne das Beschneiden nicht gewachsen sein würden. Namentlich an Stockausschlägen, die mit ihrem Bildungsstoff nicht wissen wohin, ist diese Erscheinung sehr häufig. Dieses Beschneiden der Hecken ist daher ein allgemein angewendetes Mittel, dieselben dichter zu machen.
Trotz dieser vielen Ausnahmen kann man es doch als eine Regel be- trachten, daß die Baumknospen bestimmt sind, sich erst in der folgenden Vegetationsperiode (nach einem Winter) zu ent- falten.
Im Einklang mit dieser Regel müssen wir es nun einen Vorgriff, eine Vorzeitigkeit -- wissenschaftlich Anticipation oder Pro- lepsis -- nennen, wenn eine Knospe, wie wir es eben bei Eiche und Buche kennen lernten, noch in derselben Vegetationsperiode zur Entfaltung kommt, in welcher sie selbst gebildet wurde und während ihr Mutterblatt noch lebendig am Baume neben ihr steht.
Den Sommertrieb der Eichen und Buchen möchten wir eine na- türliche Prolepsis, die Triebe beschnittener Bäume eine künstliche Prolepsis nennen. Zwischen beiden besteht der Unterschied, daß es bei der letzteren in der Regel zu einer vorgängigen Knospenbildung gar nicht kommt, während bei jener der Trieb immer aus einer wirklichen Knospe hervorgeht, wenn auch diese nie so vollkommen wie eine Herbstknospe ist.
Aus alledem, was wir bisher über den Jahrestrieb kennen gelernt haben, geht nun als Endergebniß hervor, daß der Baum aus zeitweise nacheinander hinzugewachsenen selbstständigen Längentheilen zusammengesetzt ist, welche sich scharf von einander abgliedern, so daß wir auch einen Trieb an seiner Anfügungsstelle am Zweige leichter abbrechen können, als in seiner Mitte. Für diese letzte Erscheinung müssen wir nun noch einen Grund in seinem Innern suchen, wobei uns Fig. III. 2. (auf S. 60) behülflich sein soll.
Diese Figur stellt einen durch die Mitte gespaltenen Eschenzweig dar, dem in Fig. III. 4. abgebildeten sehr ähnlich. Der Zweig besteht aus 2 Kurztrieben und dem oberen Theile eines dritten. In dem gespaltenen Marke ist durch Sternchen die Stelle bezeichnet, wo der Ursprung des
Roßmäßler, der Wald. 6
wodurch die Knospen der ſtehen gebliebenen Blätter genöthigt werden, dem Andrange des Nahrungsſaftes ſich zu öffnen und einen Trieb zu entwickeln. Darum treiben im Laub beſchnittene Hecken immer eine Menge neue Triebe, welche ohne das Beſchneiden nicht gewachſen ſein würden. Namentlich an Stockausſchlägen, die mit ihrem Bildungsſtoff nicht wiſſen wohin, iſt dieſe Erſcheinung ſehr häufig. Dieſes Beſchneiden der Hecken iſt daher ein allgemein angewendetes Mittel, dieſelben dichter zu machen.
Trotz dieſer vielen Ausnahmen kann man es doch als eine Regel be- trachten, daß die Baumknospen beſtimmt ſind, ſich erſt in der folgenden Vegetationsperiode (nach einem Winter) zu ent- falten.
Im Einklang mit dieſer Regel müſſen wir es nun einen Vorgriff, eine Vorzeitigkeit — wiſſenſchaftlich Anticipation oder Pro- lepſis — nennen, wenn eine Knospe, wie wir es eben bei Eiche und Buche kennen lernten, noch in derſelben Vegetationsperiode zur Entfaltung kommt, in welcher ſie ſelbſt gebildet wurde und während ihr Mutterblatt noch lebendig am Baume neben ihr ſteht.
Den Sommertrieb der Eichen und Buchen möchten wir eine na- türliche Prolepſis, die Triebe beſchnittener Bäume eine künſtliche Prolepſis nennen. Zwiſchen beiden beſteht der Unterſchied, daß es bei der letzteren in der Regel zu einer vorgängigen Knospenbildung gar nicht kommt, während bei jener der Trieb immer aus einer wirklichen Knospe hervorgeht, wenn auch dieſe nie ſo vollkommen wie eine Herbſtknospe iſt.
Aus alledem, was wir bisher über den Jahrestrieb kennen gelernt haben, geht nun als Endergebniß hervor, daß der Baum aus zeitweiſe nacheinander hinzugewachſenen ſelbſtſtändigen Längentheilen zuſammengeſetzt iſt, welche ſich ſcharf von einander abgliedern, ſo daß wir auch einen Trieb an ſeiner Anfügungsſtelle am Zweige leichter abbrechen können, als in ſeiner Mitte. Für dieſe letzte Erſcheinung müſſen wir nun noch einen Grund in ſeinem Innern ſuchen, wobei uns Fig. III. 2. (auf S. 60) behülflich ſein ſoll.
Dieſe Figur ſtellt einen durch die Mitte geſpaltenen Eſchenzweig dar, dem in Fig. III. 4. abgebildeten ſehr ähnlich. Der Zweig beſteht aus 2 Kurztrieben und dem oberen Theile eines dritten. In dem geſpaltenen Marke iſt durch Sternchen die Stelle bezeichnet, wo der Urſprung des
Roßmäßler, der Wald. 6
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wodurch die Knospen der ſtehen gebliebenen Blätter genöthigt werden,
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entwickeln. Darum treiben im Laub beſchnittene Hecken immer eine Menge
neue Triebe, welche ohne das Beſchneiden nicht gewachſen ſein würden.
Namentlich an Stockausſchlägen, die mit ihrem Bildungsſtoff nicht wiſſen
wohin, iſt dieſe Erſcheinung ſehr häufig. Dieſes Beſchneiden der Hecken
iſt daher ein allgemein angewendetes Mittel, dieſelben dichter zu machen.
Trotz dieſer vielen Ausnahmen kann man es doch als eine Regel be-
trachten, daß die Baumknospen beſtimmt ſind, ſich erſt in der
folgenden Vegetationsperiode (nach einem Winter) zu ent-
falten.
Im Einklang mit dieſer Regel müſſen wir es nun einen Vorgriff,
eine Vorzeitigkeit — wiſſenſchaftlich Anticipation oder Pro-
lepſis — nennen, wenn eine Knospe, wie wir es eben bei Eiche und
Buche kennen lernten, noch in derſelben Vegetationsperiode zur Entfaltung
kommt, in welcher ſie ſelbſt gebildet wurde und während ihr Mutterblatt
noch lebendig am Baume neben ihr ſteht.
Den Sommertrieb der Eichen und Buchen möchten wir eine na-
türliche Prolepſis, die Triebe beſchnittener Bäume eine künſtliche
Prolepſis nennen. Zwiſchen beiden beſteht der Unterſchied, daß es bei
der letzteren in der Regel zu einer vorgängigen Knospenbildung gar nicht
kommt, während bei jener der Trieb immer aus einer wirklichen Knospe
hervorgeht, wenn auch dieſe nie ſo vollkommen wie eine Herbſtknospe iſt.
Aus alledem, was wir bisher über den Jahrestrieb kennen gelernt
haben, geht nun als Endergebniß hervor, daß der Baum aus zeitweiſe
nacheinander hinzugewachſenen ſelbſtſtändigen Längentheilen zuſammengeſetzt
iſt, welche ſich ſcharf von einander abgliedern, ſo daß wir auch einen
Trieb an ſeiner Anfügungsſtelle am Zweige leichter abbrechen können, als
in ſeiner Mitte. Für dieſe letzte Erſcheinung müſſen wir nun noch einen
Grund in ſeinem Innern ſuchen, wobei uns Fig. III. 2. (auf S. 60)
behülflich ſein ſoll.
Dieſe Figur ſtellt einen durch die Mitte geſpaltenen Eſchenzweig dar,
dem in Fig. III. 4. abgebildeten ſehr ähnlich. Der Zweig beſteht aus
2 Kurztrieben und dem oberen Theile eines dritten. In dem geſpaltenen
Marke iſt durch Sternchen die Stelle bezeichnet, wo der Urſprung des
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Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863/105>, abgerufen am 22.12.2024.
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