David scheint den Psalm, woraus diese Worte genommen sind, zu einer solchen Zeit ver- fertiget zu haben, da die überhandnehmende Bos- heit unter seinen Zeitgenossen ihm vielen Kummer verursachte, und sein Gemüth beunruhigte. Denn er redet (Vers 19. und in folgenden) von Gottlosen, von Blutgierigen, die lästerlich von Gott sprechen, und ohne Ursache sich stolz über andere zu erheben suchten. So kränkend ihm aber diese Erfahrung ist, so ist ihm doch dieß ein sehr großer Trost, daß er keinen Antheil an diesen Sünden hat. Sein Gewißen sagt ihm, daß bey allen seinen unvorsäz- lichen Schwachheiten doch sein Herz von muthwil- ligen Bosheiten frey ist. Er hat das Herz sich dießfalls auf das Zeugnis des Allsehenden zuberuf- fen; und bey dieser Gelegenheit macht er uns eine Beschreibung von der Allgegenwart Gottes, die unserer Betrachtung würdig ist. Zwar ist nicht leicht ein Christ, dem diese Wahrheit nicht von Kindheit an sollte bekannt gewesen seyn. Aber wie oft haben wir uns daran erinnert? Wie viele edle Thaten haben wir in unserm Leben verrichtet, blos in der Absicht dem Allwißenden zugefallen, wenn auch kein Mensch in der Welt unsere Tugend bemerken sollte? Wie oft hat das ernstliche Anden- ken an die Allwißenheit Gottes uns von Sünden zurücke gehalten? Ohne Zweifel würden wir man- che sündliche That unterlaßen, manche Handlung der Großmuth und Ueberwindung mehr ausgeübt haben, wenn es uns zur Gewohnheit worden wä- re, bey einer jeden Unternehmung zu denken: Auch diesen Gedanken, dieses Wort, diesen Schritt be-
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Allwißenheit Gottes.
David ſcheint den Pſalm, woraus dieſe Worte genommen ſind, zu einer ſolchen Zeit ver- fertiget zu haben, da die überhandnehmende Bos- heit unter ſeinen Zeitgenoſſen ihm vielen Kummer verurſachte, und ſein Gemüth beunruhigte. Denn er redet (Vers 19. und in folgenden) von Gottloſen, von Blutgierigen, die läſterlich von Gott ſprechen, und ohne Urſache ſich ſtolz über andere zu erheben ſuchten. So kränkend ihm aber dieſe Erfahrung iſt, ſo iſt ihm doch dieß ein ſehr großer Troſt, daß er keinen Antheil an dieſen Sünden hat. Sein Gewißen ſagt ihm, daß bey allen ſeinen unvorſäz- lichen Schwachheiten doch ſein Herz von muthwil- ligen Bosheiten frey iſt. Er hat das Herz ſich dießfalls auf das Zeugnis des Allſehenden zuberuf- fen; und bey dieſer Gelegenheit macht er uns eine Beſchreibung von der Allgegenwart Gottes, die unſerer Betrachtung würdig iſt. Zwar iſt nicht leicht ein Chriſt, dem dieſe Wahrheit nicht von Kindheit an ſollte bekannt geweſen ſeyn. Aber wie oft haben wir uns daran erinnert? Wie viele edle Thaten haben wir in unſerm Leben verrichtet, blos in der Abſicht dem Allwißenden zugefallen, wenn auch kein Menſch in der Welt unſere Tugend bemerken ſollte? Wie oft hat das ernſtliche Anden- ken an die Allwißenheit Gottes uns von Sünden zurücke gehalten? Ohne Zweifel würden wir man- che ſündliche That unterlaßen, manche Handlung der Großmuth und Ueberwindung mehr ausgeübt haben, wenn es uns zur Gewohnheit worden wä- re, bey einer jeden Unternehmung zu denken: Auch dieſen Gedanken, dieſes Wort, dieſen Schritt be-
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Allwißenheit Gottes.
David ſcheint den Pſalm, woraus dieſe Worte
genommen ſind, zu einer ſolchen Zeit ver-
fertiget zu haben, da die überhandnehmende Bos-
heit unter ſeinen Zeitgenoſſen ihm vielen Kummer
verurſachte, und ſein Gemüth beunruhigte. Denn
er redet (Vers 19. und in folgenden) von Gottloſen,
von Blutgierigen, die läſterlich von Gott ſprechen,
und ohne Urſache ſich ſtolz über andere zu erheben
ſuchten. So kränkend ihm aber dieſe Erfahrung
iſt, ſo iſt ihm doch dieß ein ſehr großer Troſt, daß
er keinen Antheil an dieſen Sünden hat. Sein
Gewißen ſagt ihm, daß bey allen ſeinen unvorſäz-
lichen Schwachheiten doch ſein Herz von muthwil-
ligen Bosheiten frey iſt. Er hat das Herz ſich
dießfalls auf das Zeugnis des Allſehenden zuberuf-
fen; und bey dieſer Gelegenheit macht er uns eine
Beſchreibung von der Allgegenwart Gottes, die
unſerer Betrachtung würdig iſt. Zwar iſt nicht
leicht ein Chriſt, dem dieſe Wahrheit nicht von
Kindheit an ſollte bekannt geweſen ſeyn. Aber
wie oft haben wir uns daran erinnert? Wie viele
edle Thaten haben wir in unſerm Leben verrichtet,
blos in der Abſicht dem Allwißenden zugefallen,
wenn auch kein Menſch in der Welt unſere Tugend
bemerken ſollte? Wie oft hat das ernſtliche Anden-
ken an die Allwißenheit Gottes uns von Sünden
zurücke gehalten? Ohne Zweifel würden wir man-
che ſündliche That unterlaßen, manche Handlung
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Rosenmüller, Johann Georg: Betrachtungen über auserlesene Stellen der Heil. Schrift zur häuslichen Erbauung. Nürnberg, 1778, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenmueller_betrachtungen_1789/235>, abgerufen am 18.07.2024.
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