Rosenmüller, Johann Georg: Betrachtungen über auserlesene Stellen der Heil. Schrift zur häuslichen Erbauung. Nürnberg, 1778.Eilfte Betr. Von der wahren Liebe Keiner kan mehr ohne dem andern leben, und wennsie auch dem Leibe nach von einander getrennt sind, so bleibt doch die Vereinigung der Gemüther in ihrer vollen Stärke. Keinem kan etwas kränken- der seyn, als der Gedanke: Ich habe meinen Freund beleidiget, und ich bin in Gefahr seine Liebe zu ver- lieren. So ist es mit einer wahren Freundschaft unter Menschen, und so verhält es sich auch gewis- sermaßen mit der Liebe eines Christen gegen Gott; ia diese Gesinnung ist bey einem Christen so herr- schend, daß er lieber alle zeitliche Vortheile auf- opfern, die Freundschaft aller Menschen in der Welt entbehren, als etwas mit Vorsatz und Wis- sen thun würde, wodurch er die Gunst und Gnade seines Gottes verscherzen könnte. Doch, wir müßen die vornehmsten Eigen- nuß
Eilfte Betr. Von der wahren Liebe Keiner kan mehr ohne dem andern leben, und wennſie auch dem Leibe nach von einander getrennt ſind, ſo bleibt doch die Vereinigung der Gemüther in ihrer vollen Stärke. Keinem kan etwas kränken- der ſeyn, als der Gedanke: Ich habe meinen Freund beleidiget, und ich bin in Gefahr ſeine Liebe zu ver- lieren. So iſt es mit einer wahren Freundſchaft unter Menſchen, und ſo verhält es ſich auch gewiſ- ſermaßen mit der Liebe eines Chriſten gegen Gott; ia dieſe Geſinnung iſt bey einem Chriſten ſo herr- ſchend, daß er lieber alle zeitliche Vortheile auf- opfern, die Freundſchaft aller Menſchen in der Welt entbehren, als etwas mit Vorſatz und Wiſ- ſen thun würde, wodurch er die Gunſt und Gnade ſeines Gottes verſcherzen könnte. Doch, wir müßen die vornehmſten Eigen- nuß
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Eilfte Betr. Von der wahren Liebe
Keiner kan mehr ohne dem andern leben, und wenn
ſie auch dem Leibe nach von einander getrennt ſind,
ſo bleibt doch die Vereinigung der Gemüther in
ihrer vollen Stärke. Keinem kan etwas kränken-
der ſeyn, als der Gedanke: Ich habe meinen Freund
beleidiget, und ich bin in Gefahr ſeine Liebe zu ver-
lieren. So iſt es mit einer wahren Freundſchaft
unter Menſchen, und ſo verhält es ſich auch gewiſ-
ſermaßen mit der Liebe eines Chriſten gegen Gott;
ia dieſe Geſinnung iſt bey einem Chriſten ſo herr-
ſchend, daß er lieber alle zeitliche Vortheile auf-
opfern, die Freundſchaft aller Menſchen in der
Welt entbehren, als etwas mit Vorſatz und Wiſ-
ſen thun würde, wodurch er die Gunſt und Gnade
ſeines Gottes verſcherzen könnte.
Doch, wir müßen die vornehmſten Eigen-
ſchaften einer wahren Liebe zu Gott noch etwas
näher betrachten. Und da bringt es denn ſchon
die Natur und Beſchaffenheit der wahren Liebe mit
ſich, daß wir uns oft und bey aller Gelegenheit an
Gott erinnern, und daß wir in dem Andenken an
ihn ein wahres Vergnügen empfinden. Freuen
wir uns nicht, wenn wir an einen Wohlthäter und
Freund gedenken? Ergreifen wir nicht mit Ver-
gnügen eine iede Gelegenheit, wo wir von ihm
ſprechen, und ſeine liebenswürdigen Eigenſchaften
rühmen können? Wenn wir nun Gott aufrichtig
und redlich lieben, ſo wird uns das Andenken an
ihn ſo geläufig ſeyn, daß wir uns an nichts in der
Welt mit ſo viel Vergnügen erinnern werden, als
an ihn; und dieſes um ſo viel mehr, da wir ia
täglich und ſtündlich bey dem mannigfaltigen Ge-
nuß
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