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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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Nehmen wir z. B. die bildende Kunst, so ist die An¬
schauung eines Menschen, der seine Nothdurft verrichtet oder
der sich erbricht, gewiß ekelhaft. Dennoch haben Maler sich
nicht gescheuet, solche Züge bei großen Gastereien mit aufzu¬
führen. Es ist einmal der Lauf der Welt, daß die Leute,
wenn es ihnen prächtig schmeckt, sich auch wohl übernehmen.
Zur Vollständigkeit der Schilderung hat der Künstler diesen
Moment nicht fortlassen wollen, allein er hat es durch die
Art seiner Darstellung ästhetisch gemildert. Paul Veronese
hat so bekanntlich die Hochzeit zu Kanah gemalt. Im Vor¬
dergrund hat er einen kleinen Jungen gemalt, der in kind¬
licher Unschuld pißt. Ein Kind in dieser Situation ist im
Vordergrund ertragsam, zumal es, wie es lächelnd sein
Röckchen emporhebt, die niedlichen Waden und Lenden zeigt.
Den sich Erbrechenden aber, einen Erwachsenen, der des
guten Essens und Trinkens zu viel genossen, sehen wir in
den Hintergrund gestellt, wo er den weinschweren Kopf an
eine Mauer lehnt.

Die Dissonanz ist, musikalisch genommen, die Vernich¬
tung der Musik, die Unmusik. Der Musiker darf sie aber
nicht willkürlich, vielmehr nur da eintreten lassen, wo sie
vorbereitet ist, wo sie nothwendig wird, wo sie durch die
Auflösung des Mißtons den Triumph der höhern Har¬
monie begründet.

Der Dichter, der uns einen Kaliban hinstellt, thut dies
auf einer Insel im Weltmeer, die von einem Zauberer be¬
herrscht wird, so daß in diesem Zusammenhang seine Erschei¬
nung die Absonderlichkeit verliert. Er ist der ursprüngliche
barbarische Einwohner dieser wilden Insel, über den sich der
gebildete Eindringling zum Herren gemacht hat -- das
Schicksal aller Naturvölker, die mit Culturvölkern in Be¬

Nehmen wir z. B. die bildende Kunſt, ſo iſt die An¬
ſchauung eines Menſchen, der ſeine Nothdurft verrichtet oder
der ſich erbricht, gewiß ekelhaft. Dennoch haben Maler ſich
nicht geſcheuet, ſolche Züge bei großen Gaſtereien mit aufzu¬
führen. Es iſt einmal der Lauf der Welt, daß die Leute,
wenn es ihnen prächtig ſchmeckt, ſich auch wohl übernehmen.
Zur Vollſtändigkeit der Schilderung hat der Künſtler dieſen
Moment nicht fortlaſſen wollen, allein er hat es durch die
Art ſeiner Darſtellung äſthetiſch gemildert. Paul Veroneſe
hat ſo bekanntlich die Hochzeit zu Kanah gemalt. Im Vor¬
dergrund hat er einen kleinen Jungen gemalt, der in kind¬
licher Unſchuld pißt. Ein Kind in dieſer Situation iſt im
Vordergrund ertragſam, zumal es, wie es lächelnd ſein
Röckchen emporhebt, die niedlichen Waden und Lenden zeigt.
Den ſich Erbrechenden aber, einen Erwachſenen, der des
guten Eſſens und Trinkens zu viel genoſſen, ſehen wir in
den Hintergrund geſtellt, wo er den weinſchweren Kopf an
eine Mauer lehnt.

Die Diſſonanz iſt, muſikaliſch genommen, die Vernich¬
tung der Muſik, die Unmuſik. Der Muſiker darf ſie aber
nicht willkürlich, vielmehr nur da eintreten laſſen, wo ſie
vorbereitet iſt, wo ſie nothwendig wird, wo ſie durch die
Auflöſung des Mißtons den Triumph der höhern Har¬
monie begründet.

Der Dichter, der uns einen Kaliban hinſtellt, thut dies
auf einer Inſel im Weltmeer, die von einem Zauberer be¬
herrſcht wird, ſo daß in dieſem Zuſammenhang ſeine Erſchei¬
nung die Abſonderlichkeit verliert. Er iſt der urſprüngliche
barbariſche Einwohner dieſer wilden Inſel, über den ſich der
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[45/0067] Nehmen wir z. B. die bildende Kunſt, ſo iſt die An¬ ſchauung eines Menſchen, der ſeine Nothdurft verrichtet oder der ſich erbricht, gewiß ekelhaft. Dennoch haben Maler ſich nicht geſcheuet, ſolche Züge bei großen Gaſtereien mit aufzu¬ führen. Es iſt einmal der Lauf der Welt, daß die Leute, wenn es ihnen prächtig ſchmeckt, ſich auch wohl übernehmen. Zur Vollſtändigkeit der Schilderung hat der Künſtler dieſen Moment nicht fortlaſſen wollen, allein er hat es durch die Art ſeiner Darſtellung äſthetiſch gemildert. Paul Veroneſe hat ſo bekanntlich die Hochzeit zu Kanah gemalt. Im Vor¬ dergrund hat er einen kleinen Jungen gemalt, der in kind¬ licher Unſchuld pißt. Ein Kind in dieſer Situation iſt im Vordergrund ertragſam, zumal es, wie es lächelnd ſein Röckchen emporhebt, die niedlichen Waden und Lenden zeigt. Den ſich Erbrechenden aber, einen Erwachſenen, der des guten Eſſens und Trinkens zu viel genoſſen, ſehen wir in den Hintergrund geſtellt, wo er den weinſchweren Kopf an eine Mauer lehnt. Die Diſſonanz iſt, muſikaliſch genommen, die Vernich¬ tung der Muſik, die Unmuſik. Der Muſiker darf ſie aber nicht willkürlich, vielmehr nur da eintreten laſſen, wo ſie vorbereitet iſt, wo ſie nothwendig wird, wo ſie durch die Auflöſung des Mißtons den Triumph der höhern Har¬ monie begründet. Der Dichter, der uns einen Kaliban hinſtellt, thut dies auf einer Inſel im Weltmeer, die von einem Zauberer be¬ herrſcht wird, ſo daß in dieſem Zuſammenhang ſeine Erſchei¬ nung die Abſonderlichkeit verliert. Er iſt der urſprüngliche barbariſche Einwohner dieſer wilden Inſel, über den ſich der gebildete Eindringling zum Herren gemacht hat — das Schickſal aller Naturvölker, die mit Culturvölkern in Be¬

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/67>, abgerufen am 28.04.2024.