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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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vermag, dessen Zauber uns unwiderstehlich hinreißt, -- wie
der häßliche Mirabeau die schönsten Frauen leidenschaftlich zu
fesseln wußte, sobald sie nur ihm zu sprechen erlaubten; wie
Richard III. bei Shakespeare in solch geistüberlegener Weise an
der Bahre Heinrichs VI. die Liebe der ihm zuerst fluchenden
Anna zu erwerben weiß; wie Alkibiades im Platonischen
Symposion von Sokrates sagt, daß er schweigend häßlich,
redend aber schön sei.

Daß das Böse als das Geisthäßliche, wenn es habituell
wird, die Physiognomie des Menschen verhäßlichen müsse,
liegt in seinem Wesen, weil es diejenige Unfreiheit ist, die
aus der freien Negation der wahrhaften Freiheit entspringt.
Der Habitus und die Physiognomie glücklicher Naturvölker
kann schön sein, weil sie einer wenn auch vorerst natürlichen
Freiheit sich erfreuen. Die Unfreiheit, welche darin besteht,
daß man das Böse, indem man es als das Böse weiß, doch
will, enthält den tiefsten Widerspruch des Willens mit seiner
Idee; ein Widerspruch, der sich auch äußerlich verrathen
muß. Einzelne Verkehrtheiten und Laster gewinnen ihren
bestimmten physiognomischen Ausdruck. Neid, Haß, Lüge,
Geiz, Wollust arbeiten ihnen eigenthümliche Formen aus.
So bemerkt man an Diebinnen einen unsichern, seitlich ab¬
irrenden Blick, dessen Bewegung die Franzosen vom Lateinischen
fur fureter nennen und der in seinem flüchtig scharfen, ver¬
stohlen offenen Umhertasten etwas Entsetzliches hat. Wenn
man große Gefängnisse besucht und in Sääle tritt, wo öfter
sechszig bis hundert Diebinnen zusammen spinnen, so kann
man diesen specifischen Blick des lauernden, kniffigen Auges
gleichsam als Gattungsblick wahrnehmen. Noch größer muß
natürlich die Häßlichkeit werden, wenn das Böse an und für
sich gewollt wird. Aber so paradox es klingt, so wird doch

vermag, deſſen Zauber uns unwiderſtehlich hinreißt, — wie
der häßliche Mirabeau die ſchönſten Frauen leidenſchaftlich zu
feſſeln wußte, ſobald ſie nur ihm zu ſprechen erlaubten; wie
Richard III. bei Shakeſpeare in ſolch geiſtüberlegener Weiſe an
der Bahre Heinrichs VI. die Liebe der ihm zuerſt fluchenden
Anna zu erwerben weiß; wie Alkibiades im Platoniſchen
Sympoſion von Sokrates ſagt, daß er ſchweigend häßlich,
redend aber ſchön ſei.

Daß das Böſe als das Geiſthäßliche, wenn es habituell
wird, die Phyſiognomie des Menſchen verhäßlichen müſſe,
liegt in ſeinem Weſen, weil es diejenige Unfreiheit iſt, die
aus der freien Negation der wahrhaften Freiheit entſpringt.
Der Habitus und die Phyſiognomie glücklicher Naturvölker
kann ſchön ſein, weil ſie einer wenn auch vorerſt natürlichen
Freiheit ſich erfreuen. Die Unfreiheit, welche darin beſteht,
daß man das Böſe, indem man es als das Böſe weiß, doch
will, enthält den tiefſten Widerſpruch des Willens mit ſeiner
Idee; ein Widerſpruch, der ſich auch äußerlich verrathen
muß. Einzelne Verkehrtheiten und Laſter gewinnen ihren
beſtimmten phyſiognomiſchen Ausdruck. Neid, Haß, Lüge,
Geiz, Wolluſt arbeiten ihnen eigenthümliche Formen aus.
So bemerkt man an Diebinnen einen unſichern, ſeitlich ab¬
irrenden Blick, deſſen Bewegung die Franzoſen vom Lateiniſchen
fur fureter nennen und der in ſeinem flüchtig ſcharfen, ver¬
ſtohlen offenen Umhertaſten etwas Entſetzliches hat. Wenn
man große Gefängniſſe beſucht und in Sääle tritt, wo öfter
ſechszig bis hundert Diebinnen zuſammen ſpinnen, ſo kann
man dieſen ſpecifiſchen Blick des lauernden, kniffigen Auges
gleichſam als Gattungsblick wahrnehmen. Noch größer muß
natürlich die Häßlichkeit werden, wenn das Böſe an und für
ſich gewollt wird. Aber ſo paradox es klingt, ſo wird doch

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[29/0051] vermag, deſſen Zauber uns unwiderſtehlich hinreißt, — wie der häßliche Mirabeau die ſchönſten Frauen leidenſchaftlich zu feſſeln wußte, ſobald ſie nur ihm zu ſprechen erlaubten; wie Richard III. bei Shakeſpeare in ſolch geiſtüberlegener Weiſe an der Bahre Heinrichs VI. die Liebe der ihm zuerſt fluchenden Anna zu erwerben weiß; wie Alkibiades im Platoniſchen Sympoſion von Sokrates ſagt, daß er ſchweigend häßlich, redend aber ſchön ſei. Daß das Böſe als das Geiſthäßliche, wenn es habituell wird, die Phyſiognomie des Menſchen verhäßlichen müſſe, liegt in ſeinem Weſen, weil es diejenige Unfreiheit iſt, die aus der freien Negation der wahrhaften Freiheit entſpringt. Der Habitus und die Phyſiognomie glücklicher Naturvölker kann ſchön ſein, weil ſie einer wenn auch vorerſt natürlichen Freiheit ſich erfreuen. Die Unfreiheit, welche darin beſteht, daß man das Böſe, indem man es als das Böſe weiß, doch will, enthält den tiefſten Widerſpruch des Willens mit ſeiner Idee; ein Widerſpruch, der ſich auch äußerlich verrathen muß. Einzelne Verkehrtheiten und Laſter gewinnen ihren beſtimmten phyſiognomiſchen Ausdruck. Neid, Haß, Lüge, Geiz, Wolluſt arbeiten ihnen eigenthümliche Formen aus. So bemerkt man an Diebinnen einen unſichern, ſeitlich ab¬ irrenden Blick, deſſen Bewegung die Franzoſen vom Lateiniſchen fur fureter nennen und der in ſeinem flüchtig ſcharfen, ver¬ ſtohlen offenen Umhertaſten etwas Entſetzliches hat. Wenn man große Gefängniſſe beſucht und in Sääle tritt, wo öfter ſechszig bis hundert Diebinnen zuſammen ſpinnen, ſo kann man dieſen ſpecifiſchen Blick des lauernden, kniffigen Auges gleichſam als Gattungsblick wahrnehmen. Noch größer muß natürlich die Häßlichkeit werden, wenn das Böſe an und für ſich gewollt wird. Aber ſo paradox es klingt, ſo wird doch

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/51>, abgerufen am 28.04.2024.