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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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schen Zustände mußte sich auch in der Zweideutigkeit der
Thiergestalt ausprägen. Finden wir doch jetzt noch, wo die
Bodenform noch unreif und die Vegetation jungfräulich ist,
solche Zwitterexistenzen, wie in Australiens Schnabelthieren.

Das Thier kann also schon in seinem unmittelbaren
Typus häßlich sein. Allein es kann auch, wenn gleich der¬
selbe primitiv schön ist, häßlich werden, denn es kann, wie
die Pflanzen, durch Verstümmelung von Außen oder durch
Erkrankung von Innen der Mißbildung unterworfen werden.
In beiden Fällen übersteigt seine Häßlichkeit die der Pflanze
bei weitem, weil sein Organismus viel einheitlicher und ab¬
geschlossener ist, während die Pflanze in's Unbestimmte hin¬
ausrankt und daher im Umriß ihrer Gestalt einer gewissen
Zufälligkeit unterliegt. Die Gliederung des Thiers ist eine
an und für sich bestimmte. Wird also bei ihm ein Glied
verletzt oder weggenommen, so wird dadurch das Thier sofort
verhäßlicht. Daß Thier kann von seinem Organismus nichts
entbehren, mit Ausnahme des vegetativen Ueberflusses von
Haaren, Hörnern u. dgl., den es zu erneuern vermag.
Von einem Rosenstrauch kann man eine Rose pflücken,
ohne damit die Pflanze an sich zu schädigen oder ihre Gestalt
zu verunschönen. Einem Vogel kann man nicht einen Flügel
wegschneiden, einer Katze nicht den Schwanz abhacken, ohne
sie damit unförmlich zu machen und in ihrem Lebensgenuß
zu beeinträchtigen. -- Wegen der in sich a priori abgeschlossenen
Articulation wird nun die Thiergestalt auch umgekehrt hä߬
lich durch einen Ueberfluß, der nicht in ihrem Begriff liegt.
Die Glieder des animalischen Organismus sind der Zahl
und der Lage nach genau bestimmt, denn sie stehen unter
einander in harmonischer Wechselwirkung. Ein Glied mehr
oder ein Glied an einer andern Stelle, als dem Begriff nach

ſchen Zuſtände mußte ſich auch in der Zweideutigkeit der
Thiergeſtalt ausprägen. Finden wir doch jetzt noch, wo die
Bodenform noch unreif und die Vegetation jungfräulich iſt,
ſolche Zwitterexiſtenzen, wie in Auſtraliens Schnabelthieren.

Das Thier kann alſo ſchon in ſeinem unmittelbaren
Typus häßlich ſein. Allein es kann auch, wenn gleich der¬
ſelbe primitiv ſchön iſt, häßlich werden, denn es kann, wie
die Pflanzen, durch Verſtümmelung von Außen oder durch
Erkrankung von Innen der Mißbildung unterworfen werden.
In beiden Fällen überſteigt ſeine Häßlichkeit die der Pflanze
bei weitem, weil ſein Organismus viel einheitlicher und ab¬
geſchloſſener iſt, während die Pflanze in's Unbeſtimmte hin¬
ausrankt und daher im Umriß ihrer Geſtalt einer gewiſſen
Zufälligkeit unterliegt. Die Gliederung des Thiers iſt eine
an und für ſich beſtimmte. Wird alſo bei ihm ein Glied
verletzt oder weggenommen, ſo wird dadurch das Thier ſofort
verhäßlicht. Daß Thier kann von ſeinem Organismus nichts
entbehren, mit Ausnahme des vegetativen Ueberfluſſes von
Haaren, Hörnern u. dgl., den es zu erneuern vermag.
Von einem Roſenſtrauch kann man eine Roſe pflücken,
ohne damit die Pflanze an ſich zu ſchädigen oder ihre Geſtalt
zu verunſchönen. Einem Vogel kann man nicht einen Flügel
wegſchneiden, einer Katze nicht den Schwanz abhacken, ohne
ſie damit unförmlich zu machen und in ihrem Lebensgenuß
zu beeinträchtigen. — Wegen der in ſich a priori abgeſchloſſenen
Articulation wird nun die Thiergeſtalt auch umgekehrt hä߬
lich durch einen Ueberfluß, der nicht in ihrem Begriff liegt.
Die Glieder des animaliſchen Organismus ſind der Zahl
und der Lage nach genau beſtimmt, denn ſie ſtehen unter
einander in harmoniſcher Wechſelwirkung. Ein Glied mehr
oder ein Glied an einer andern Stelle, als dem Begriff nach

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[23/0045] ſchen Zuſtände mußte ſich auch in der Zweideutigkeit der Thiergeſtalt ausprägen. Finden wir doch jetzt noch, wo die Bodenform noch unreif und die Vegetation jungfräulich iſt, ſolche Zwitterexiſtenzen, wie in Auſtraliens Schnabelthieren. Das Thier kann alſo ſchon in ſeinem unmittelbaren Typus häßlich ſein. Allein es kann auch, wenn gleich der¬ ſelbe primitiv ſchön iſt, häßlich werden, denn es kann, wie die Pflanzen, durch Verſtümmelung von Außen oder durch Erkrankung von Innen der Mißbildung unterworfen werden. In beiden Fällen überſteigt ſeine Häßlichkeit die der Pflanze bei weitem, weil ſein Organismus viel einheitlicher und ab¬ geſchloſſener iſt, während die Pflanze in's Unbeſtimmte hin¬ ausrankt und daher im Umriß ihrer Geſtalt einer gewiſſen Zufälligkeit unterliegt. Die Gliederung des Thiers iſt eine an und für ſich beſtimmte. Wird alſo bei ihm ein Glied verletzt oder weggenommen, ſo wird dadurch das Thier ſofort verhäßlicht. Daß Thier kann von ſeinem Organismus nichts entbehren, mit Ausnahme des vegetativen Ueberfluſſes von Haaren, Hörnern u. dgl., den es zu erneuern vermag. Von einem Roſenſtrauch kann man eine Roſe pflücken, ohne damit die Pflanze an ſich zu ſchädigen oder ihre Geſtalt zu verunſchönen. Einem Vogel kann man nicht einen Flügel wegſchneiden, einer Katze nicht den Schwanz abhacken, ohne ſie damit unförmlich zu machen und in ihrem Lebensgenuß zu beeinträchtigen. — Wegen der in ſich a priori abgeſchloſſenen Articulation wird nun die Thiergeſtalt auch umgekehrt hä߬ lich durch einen Ueberfluß, der nicht in ihrem Begriff liegt. Die Glieder des animaliſchen Organismus ſind der Zahl und der Lage nach genau beſtimmt, denn ſie ſtehen unter einander in harmoniſcher Wechſelwirkung. Ein Glied mehr oder ein Glied an einer andern Stelle, als dem Begriff nach

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/45>, abgerufen am 29.03.2024.