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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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ristischen entweder ganz aufgehoben oder so sehr ins Extrem
gesteigert würde, daß die äußerste Häßlichkeit die Folge sein
müßte, weil das Häßliche alles Maaß negirt, wie schon
Platon es im Sophistes, 228., a., to ametrias pan¬
takhou duseides on genos, das allwärts mißgestaltete Ge¬
schlecht des Häßlichen nennt. Allein dies wäre doch ein
Irrthum. Die Maaßlosigkeit der Phantastik erzeugt nämlich
in sich selbst wieder ein Maaß, indem innerhalb ihrer Ueber¬
treibung die Gestalten doch wieder in ein gewisses propor¬
tionales Verhältniß zu einander treten müssen. Hiedurch wird
eine außerordentliche Freiheit, Kühnheit, aber auch Anmuth
der Behandlung möglich, so daß die Caricaturen sich nicht
nur in ein endliches Medium, vielmehr in die Unendlichkeit
der Idee selber, in das Schöne und Wahre und Gute an
und für sich reflectiren. Wie die alte Komödie der Griechen
in dieser idealen Phantastik so Bewundernswürdiges leistete,
so würden auch wir Deutsche unserer Anlage zufolge gerade
in dieser Richtung Unsterbliches hervorzubringen vermögen,
wenn nur einigermaaßen mehr nationale Kraft, mehr ein¬
heitliches Zusammenwirken unter uns vorhanden wäre und
nicht die besten Kräfte oft in Winkelexistenzen, in völlig
localen Ephemeriden, verkommen müßten. Wir stehen nicht
an, außer den anerkannten Meistern auf diesem Gebiet,
Jean Paul, Tieck u. A[.], das von Stranitzky einst gegrün¬
dete Leopold'sstädter Theater in Wien für dasjenige zu halten,
welches vorzüglichen Beruf zeigte, die Caricatur in den
reinsten Himmel der Komik zu versetzen und, befreiet von
aller einseitigen Verstandesschärfe, das "ganze mißgestaltete
Geschlecht des Maaßlosen" zu einem Quell der reinsten Lach¬
freude zu machen. Bäuerle bezeichnete schon seinen an¬
nahenden Verfall; mit Raimund schwang es sich noch ein¬

riſtiſchen entweder ganz aufgehoben oder ſo ſehr ins Extrem
geſteigert würde, daß die äußerſte Häßlichkeit die Folge ſein
müßte, weil das Häßliche alles Maaß negirt, wie ſchon
Platon es im Sophiſtes, 228., a., το ἀμετϱιας παν¬
ταχου δυσειδες ο͗ν γενος, das allwärts mißgeſtaltete Ge¬
ſchlecht des Häßlichen nennt. Allein dies wäre doch ein
Irrthum. Die Maaßloſigkeit der Phantaſtik erzeugt nämlich
in ſich ſelbſt wieder ein Maaß, indem innerhalb ihrer Ueber¬
treibung die Geſtalten doch wieder in ein gewiſſes propor¬
tionales Verhältniß zu einander treten müſſen. Hiedurch wird
eine außerordentliche Freiheit, Kühnheit, aber auch Anmuth
der Behandlung möglich, ſo daß die Caricaturen ſich nicht
nur in ein endliches Medium, vielmehr in die Unendlichkeit
der Idee ſelber, in das Schöne und Wahre und Gute an
und für ſich reflectiren. Wie die alte Komödie der Griechen
in dieſer idealen Phantaſtik ſo Bewundernswürdiges leiſtete,
ſo würden auch wir Deutſche unſerer Anlage zufolge gerade
in dieſer Richtung Unſterbliches hervorzubringen vermögen,
wenn nur einigermaaßen mehr nationale Kraft, mehr ein¬
heitliches Zuſammenwirken unter uns vorhanden wäre und
nicht die beſten Kräfte oft in Winkelexiſtenzen, in völlig
localen Ephemeriden, verkommen müßten. Wir ſtehen nicht
an, außer den anerkannten Meiſtern auf dieſem Gebiet,
Jean Paul, Tieck u. A[.], das von Stranitzky einſt gegrün¬
dete Leopold'sſtädter Theater in Wien für dasjenige zu halten,
welches vorzüglichen Beruf zeigte, die Caricatur in den
reinſten Himmel der Komik zu verſetzen und, befreiet von
aller einſeitigen Verſtandesſchärfe, das „ganze mißgeſtaltete
Geſchlecht des Maaßloſen“ zu einem Quell der reinſten Lach¬
freude zu machen. Bäuerle bezeichnete ſchon ſeinen an¬
nahenden Verfall; mit Raimund ſchwang es ſich noch ein¬

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[426/0448] riſtiſchen entweder ganz aufgehoben oder ſo ſehr ins Extrem geſteigert würde, daß die äußerſte Häßlichkeit die Folge ſein müßte, weil das Häßliche alles Maaß negirt, wie ſchon Platon es im Sophiſtes, 228., a., το ἀμετϱιας παν¬ ταχου δυσειδες ο͗ν γενος, das allwärts mißgeſtaltete Ge¬ ſchlecht des Häßlichen nennt. Allein dies wäre doch ein Irrthum. Die Maaßloſigkeit der Phantaſtik erzeugt nämlich in ſich ſelbſt wieder ein Maaß, indem innerhalb ihrer Ueber¬ treibung die Geſtalten doch wieder in ein gewiſſes propor¬ tionales Verhältniß zu einander treten müſſen. Hiedurch wird eine außerordentliche Freiheit, Kühnheit, aber auch Anmuth der Behandlung möglich, ſo daß die Caricaturen ſich nicht nur in ein endliches Medium, vielmehr in die Unendlichkeit der Idee ſelber, in das Schöne und Wahre und Gute an und für ſich reflectiren. Wie die alte Komödie der Griechen in dieſer idealen Phantaſtik ſo Bewundernswürdiges leiſtete, ſo würden auch wir Deutſche unſerer Anlage zufolge gerade in dieſer Richtung Unſterbliches hervorzubringen vermögen, wenn nur einigermaaßen mehr nationale Kraft, mehr ein¬ heitliches Zuſammenwirken unter uns vorhanden wäre und nicht die beſten Kräfte oft in Winkelexiſtenzen, in völlig localen Ephemeriden, verkommen müßten. Wir ſtehen nicht an, außer den anerkannten Meiſtern auf dieſem Gebiet, Jean Paul, Tieck u. A., das von Stranitzky einſt gegrün¬ dete Leopold'sſtädter Theater in Wien für dasjenige zu halten, welches vorzüglichen Beruf zeigte, die Caricatur in den reinſten Himmel der Komik zu verſetzen und, befreiet von aller einſeitigen Verſtandesſchärfe, das „ganze mißgeſtaltete Geſchlecht des Maaßloſen“ zu einem Quell der reinſten Lach¬ freude zu machen. Bäuerle bezeichnete ſchon ſeinen an¬ nahenden Verfall; mit Raimund ſchwang es ſich noch ein¬

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 426. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/448>, abgerufen am 21.05.2024.