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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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Pflichtbewußtsein, aller Wirklichkeit entfremdet und zum
scheußlichen Skelet abgezehrt wird.

Die ideale Behandlung der Caricatur können wir auch
die phantastische nennen. Die Maaßlosigkeit der Uebertrei¬
bung macht das Zerrbild sich selbst zum Zweck und stellt das
Häßliche bald als harmlosen Zufall, bald als höchste Noth¬
wendigkeit dar. Die Verzerrung vernichtet sich selbst, weil
sie aus den Schranken der gemeinen Wirklichkeit heraus¬
tritt und sich in eine mährchenhafte Freiheit hinüberspielt.
Nur große Künstler besitzen Genie genug, diese wunderbare
Metamorphose des Häßlichen hervorzubringen, die uns durch
ihren Humor gerade solche Beseligung bewirkt, wie außer¬
dem nur die absolute Schönheit es vermag. Die Freiheit
und Größe der Behandlung überwindet in ihrer Komik das
Negative der Form wie des Inhalts. Die Phantasie dieses
Standpuncts verhält sich zur Verständigkeit des erstern,
wie der junge Debüreau zum ältern Bruder, als er diesen
zu Konstantinopel in die äußerste Gefahr brachte. Debüreau's
Vater sollte mit seiner Familie vor dem Großherrn seine
athletischen und akrobatischen Künste produciren. Er ward
daher eines Tags in einen großen Saal geführt, der aber
ganz leer war; hier machte er vor einem seidenen Vorhang
mit den Seinen die halsbrechendsten Kunststücke. Unter An¬
derm nimmt der ältere Bruder eine Leiter auf die Zähne
und der jüngere klettert dieselbe hinauf. Glücklich oben an¬
gelangt vergißt er zurückzukehren, weil er von der obersten
Sprosse plötzlich den ganzen Harem des Sultans erblickt,
der hinter dem Vorhang saß. Der Bruder gab Zeichen auf
Zeichen und erlag fast, bis der Junge oben aus seinem
Erstaunen erwachte und herunterkletterte. Diese Geschichte,
die Jules Janin in seinem Debureau , histoire du theatre

Pflichtbewußtſein, aller Wirklichkeit entfremdet und zum
ſcheußlichen Skelet abgezehrt wird.

Die ideale Behandlung der Caricatur können wir auch
die phantaſtiſche nennen. Die Maaßloſigkeit der Uebertrei¬
bung macht das Zerrbild ſich ſelbſt zum Zweck und ſtellt das
Häßliche bald als harmloſen Zufall, bald als höchſte Noth¬
wendigkeit dar. Die Verzerrung vernichtet ſich ſelbſt, weil
ſie aus den Schranken der gemeinen Wirklichkeit heraus¬
tritt und ſich in eine mährchenhafte Freiheit hinüberſpielt.
Nur große Künſtler beſitzen Genie genug, dieſe wunderbare
Metamorphoſe des Häßlichen hervorzubringen, die uns durch
ihren Humor gerade ſolche Beſeligung bewirkt, wie außer¬
dem nur die abſolute Schönheit es vermag. Die Freiheit
und Größe der Behandlung überwindet in ihrer Komik das
Negative der Form wie des Inhalts. Die Phantaſie dieſes
Standpuncts verhält ſich zur Verſtändigkeit des erſtern,
wie der junge Debüreau zum ältern Bruder, als er dieſen
zu Konſtantinopel in die äußerſte Gefahr brachte. Debüreau's
Vater ſollte mit ſeiner Familie vor dem Großherrn ſeine
athletiſchen und akrobatiſchen Künſte produciren. Er ward
daher eines Tags in einen großen Saal geführt, der aber
ganz leer war; hier machte er vor einem ſeidenen Vorhang
mit den Seinen die halsbrechendſten Kunſtſtücke. Unter An¬
derm nimmt der ältere Bruder eine Leiter auf die Zähne
und der jüngere klettert dieſelbe hinauf. Glücklich oben an¬
gelangt vergißt er zurückzukehren, weil er von der oberſten
Sproſſe plötzlich den ganzen Harem des Sultans erblickt,
der hinter dem Vorhang ſaß. Der Bruder gab Zeichen auf
Zeichen und erlag faſt, bis der Junge oben aus ſeinem
Erſtaunen erwachte und herunterkletterte. Dieſe Geſchichte,
die Jules Janin in ſeinem Debureau , histoire du theâtre

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[424/0446] Pflichtbewußtſein, aller Wirklichkeit entfremdet und zum ſcheußlichen Skelet abgezehrt wird. Die ideale Behandlung der Caricatur können wir auch die phantaſtiſche nennen. Die Maaßloſigkeit der Uebertrei¬ bung macht das Zerrbild ſich ſelbſt zum Zweck und ſtellt das Häßliche bald als harmloſen Zufall, bald als höchſte Noth¬ wendigkeit dar. Die Verzerrung vernichtet ſich ſelbſt, weil ſie aus den Schranken der gemeinen Wirklichkeit heraus¬ tritt und ſich in eine mährchenhafte Freiheit hinüberſpielt. Nur große Künſtler beſitzen Genie genug, dieſe wunderbare Metamorphoſe des Häßlichen hervorzubringen, die uns durch ihren Humor gerade ſolche Beſeligung bewirkt, wie außer¬ dem nur die abſolute Schönheit es vermag. Die Freiheit und Größe der Behandlung überwindet in ihrer Komik das Negative der Form wie des Inhalts. Die Phantaſie dieſes Standpuncts verhält ſich zur Verſtändigkeit des erſtern, wie der junge Debüreau zum ältern Bruder, als er dieſen zu Konſtantinopel in die äußerſte Gefahr brachte. Debüreau's Vater ſollte mit ſeiner Familie vor dem Großherrn ſeine athletiſchen und akrobatiſchen Künſte produciren. Er ward daher eines Tags in einen großen Saal geführt, der aber ganz leer war; hier machte er vor einem ſeidenen Vorhang mit den Seinen die halsbrechendſten Kunſtſtücke. Unter An¬ derm nimmt der ältere Bruder eine Leiter auf die Zähne und der jüngere klettert dieſelbe hinauf. Glücklich oben an¬ gelangt vergißt er zurückzukehren, weil er von der oberſten Sproſſe plötzlich den ganzen Harem des Sultans erblickt, der hinter dem Vorhang ſaß. Der Bruder gab Zeichen auf Zeichen und erlag faſt, bis der Junge oben aus ſeinem Erſtaunen erwachte und herunterkletterte. Dieſe Geſchichte, die Jules Janin in ſeinem Debureau , histoire du theâtre

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/446>, abgerufen am 22.11.2024.