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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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Seele der Deformität producirt nicht blos eine einzelne, be¬
sonders auffällige Häßlichkeit, sondern durchdringt das Ganze
mit ihrer abnormen Entstellung. Im Allgemeinen werden
wir hier eine zwiefache Weise der Verbildung erkennen, die
Usurpation und die Degradation. Jene rückt eine
Erscheinung in eine höhere Form hinauf, als ihr vermöge
ihres Wesens zukommen kann; diese setzt sie in eine niedri¬
gere Form herunter, als ihr vermöge ihres Wesens zukom¬
men sollte. Die Usurpation schraubt eine Existenz zu dem
Widerspruch hinauf, mehr scheinen zu wollen, als ihr eigent¬
liches Sein ihr erlaubt. Sie affectirt das ihr nicht ursprüng¬
lich zugehörige Wesen. Die Degradation wirft eine Existenz
in den Widerspruch, sich in eine Sphäre als die ihr wesent¬
liche einzulassen, welche sie ihrem primitiven Standpunct
nach schon hinter sich hat. Usurpation und Degradation
sind daher nicht mit Potenzirung und Depotenzirung identisch.
Potenzirung ist normale Steigerung. Die mittelaltrige
Sage z. B. von Gregorius auf dem Steine, die Hart¬
mann von der Aue Deutsch bearbeitet hat und die noch jetzt
als Volksbuch cursirt, ist eine christliche Potenzirung der
antiken Oedipussage, aber keineswegs eine Carikirung der¬
selben. So ist die Art und Weise, wie Euripides den
Stoff der Orestie und Oedipodie behandelt hat, gegen die
Aeschyleische Darstellung der ersteren, gegen die Sophokleische
der zweiten gehalten, eine poetische Depotenzirung, allein
noch keineswegs eine Carikirung derselben. Es wird also
noch eine Bestimmung erforderlich sein, die zu hoch oder
zu niedrig greifende Richtung der Deformität zur carikirenden
zu machen und dies wird die bestimmte Vergleichung
sein, zu welcher die Verzerrung auffordern muß. Alle Be¬
stimmungen des Häßlichen als Reflexionsbegriffe schließen

Seele der Deformität producirt nicht blos eine einzelne, be¬
ſonders auffällige Häßlichkeit, ſondern durchdringt das Ganze
mit ihrer abnormen Entſtellung. Im Allgemeinen werden
wir hier eine zwiefache Weiſe der Verbildung erkennen, die
Uſurpation und die Degradation. Jene rückt eine
Erſcheinung in eine höhere Form hinauf, als ihr vermöge
ihres Weſens zukommen kann; dieſe ſetzt ſie in eine niedri¬
gere Form herunter, als ihr vermöge ihres Weſens zukom¬
men ſollte. Die Uſurpation ſchraubt eine Exiſtenz zu dem
Widerſpruch hinauf, mehr ſcheinen zu wollen, als ihr eigent¬
liches Sein ihr erlaubt. Sie affectirt das ihr nicht urſprüng¬
lich zugehörige Weſen. Die Degradation wirft eine Exiſtenz
in den Widerſpruch, ſich in eine Sphäre als die ihr weſent¬
liche einzulaſſen, welche ſie ihrem primitiven Standpunct
nach ſchon hinter ſich hat. Uſurpation und Degradation
ſind daher nicht mit Potenzirung und Depotenzirung identiſch.
Potenzirung iſt normale Steigerung. Die mittelaltrige
Sage z. B. von Gregorius auf dem Steine, die Hart¬
mann von der Aue Deutſch bearbeitet hat und die noch jetzt
als Volksbuch curſirt, iſt eine chriſtliche Potenzirung der
antiken Oedipusſage, aber keineswegs eine Carikirung der¬
ſelben. So iſt die Art und Weiſe, wie Euripides den
Stoff der Oreſtie und Oedipodie behandelt hat, gegen die
Aeſchyleiſche Darſtellung der erſteren, gegen die Sophokleiſche
der zweiten gehalten, eine poetiſche Depotenzirung, allein
noch keineswegs eine Carikirung derſelben. Es wird alſo
noch eine Beſtimmung erforderlich ſein, die zu hoch oder
zu niedrig greifende Richtung der Deformität zur carikirenden
zu machen und dies wird die beſtimmte Vergleichung
ſein, zu welcher die Verzerrung auffordern muß. Alle Be¬
ſtimmungen des Häßlichen als Reflexionsbegriffe ſchließen

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[391/0413] Seele der Deformität producirt nicht blos eine einzelne, be¬ ſonders auffällige Häßlichkeit, ſondern durchdringt das Ganze mit ihrer abnormen Entſtellung. Im Allgemeinen werden wir hier eine zwiefache Weiſe der Verbildung erkennen, die Uſurpation und die Degradation. Jene rückt eine Erſcheinung in eine höhere Form hinauf, als ihr vermöge ihres Weſens zukommen kann; dieſe ſetzt ſie in eine niedri¬ gere Form herunter, als ihr vermöge ihres Weſens zukom¬ men ſollte. Die Uſurpation ſchraubt eine Exiſtenz zu dem Widerſpruch hinauf, mehr ſcheinen zu wollen, als ihr eigent¬ liches Sein ihr erlaubt. Sie affectirt das ihr nicht urſprüng¬ lich zugehörige Weſen. Die Degradation wirft eine Exiſtenz in den Widerſpruch, ſich in eine Sphäre als die ihr weſent¬ liche einzulaſſen, welche ſie ihrem primitiven Standpunct nach ſchon hinter ſich hat. Uſurpation und Degradation ſind daher nicht mit Potenzirung und Depotenzirung identiſch. Potenzirung iſt normale Steigerung. Die mittelaltrige Sage z. B. von Gregorius auf dem Steine, die Hart¬ mann von der Aue Deutſch bearbeitet hat und die noch jetzt als Volksbuch curſirt, iſt eine chriſtliche Potenzirung der antiken Oedipusſage, aber keineswegs eine Carikirung der¬ ſelben. So iſt die Art und Weiſe, wie Euripides den Stoff der Oreſtie und Oedipodie behandelt hat, gegen die Aeſchyleiſche Darſtellung der erſteren, gegen die Sophokleiſche der zweiten gehalten, eine poetiſche Depotenzirung, allein noch keineswegs eine Carikirung derſelben. Es wird alſo noch eine Beſtimmung erforderlich ſein, die zu hoch oder zu niedrig greifende Richtung der Deformität zur carikirenden zu machen und dies wird die beſtimmte Vergleichung ſein, zu welcher die Verzerrung auffordern muß. Alle Be¬ ſtimmungen des Häßlichen als Reflexionsbegriffe ſchließen

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 391. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/413>, abgerufen am 22.11.2024.