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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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Besessenseins liegt noch ein Dualismus des Menschlichen und
des Teuflischen. Der Besessene wird vorgestellt, als wenn
Dämone von ihm Besitz genommen hätten und über ihn eine
willkürliche Herrschaft ausübten. Eine solche Dualität ver¬
schiedener Persönlichkeiten in demselben Organismus kann
natürlich nicht schön sein; einerseits ist die gleichsam ruhende
Gestalt des Besessenen, anderseits die excentrische Bewegtheit
vorhanden, welche die Gewalt der den Menschen besitzenden
Dämone erzeugt. Bringt uns also die Malerei oder Poesie
eine solche Zerrissenheit zur Anschauung, so müssen sie zwischen
der Naturgestalt und zwischen der von den Dämonen ge¬
machten gleichsam künstlichen unterscheiden. Da jedoch die
Dämone von dem Menschen nicht würden Besitz haben
nehmen können, wenn er ihnen nicht selber den Zugang zu
sich eröffnet hätte, so fällt dieser Unterschied im Grunde
doch wieder weg. Alle Religionen stimmen in dieser Auf¬
fassung überein. Selbst die Indische setzt die Schuld, also
die Freiheit des Menschen für solchen Fall voraus. Nalas,
der Fürst von Nischada, Damajanti's strahlender Gemahl,
hat den Neid der Götter durch das Glück erregt, daß die
Schöne ihn den Göttern vorgezogen. Lange lauern sie ihm
auf, ihm etwas anzuhaben, denn neidisch und rachsüchtig
sind die Indischen Götter nicht weniger, als die Griechischen.
Umsonst. Der Edle erfüllt streng alle Pflichten seiner Kaste.
Endlich nach zwölf Jahren urinirt er einmal, vergißt die
vorgeschriebene Reinigung, tritt mit dem Fuß in das urin¬
feuchte Gras -- und gibt hiermit dem bösen Dämon Ge¬
legenheit, in ihn einzufahren. Der ihn immer schon umlun¬
gernde tückische Kalis nimmt Besitz von ihm und verführt
ihn zunächst zum Hazardspiel. Man kann darüber ver¬
nünfteln, daß eine Religion so absurde Vorschriften mache.

Beſeſſenſeins liegt noch ein Dualismus des Menſchlichen und
des Teufliſchen. Der Beſeſſene wird vorgeſtellt, als wenn
Dämone von ihm Beſitz genommen hätten und über ihn eine
willkürliche Herrſchaft ausübten. Eine ſolche Dualität ver¬
ſchiedener Perſönlichkeiten in demſelben Organismus kann
natürlich nicht ſchön ſein; einerſeits iſt die gleichſam ruhende
Geſtalt des Beſeſſenen, anderſeits die excentriſche Bewegtheit
vorhanden, welche die Gewalt der den Menſchen beſitzenden
Dämone erzeugt. Bringt uns alſo die Malerei oder Poeſie
eine ſolche Zerriſſenheit zur Anſchauung, ſo müſſen ſie zwiſchen
der Naturgeſtalt und zwiſchen der von den Dämonen ge¬
machten gleichſam künſtlichen unterſcheiden. Da jedoch die
Dämone von dem Menſchen nicht würden Beſitz haben
nehmen können, wenn er ihnen nicht ſelber den Zugang zu
ſich eröffnet hätte, ſo fällt dieſer Unterſchied im Grunde
doch wieder weg. Alle Religionen ſtimmen in dieſer Auf¬
faſſung überein. Selbſt die Indiſche ſetzt die Schuld, alſo
die Freiheit des Menſchen für ſolchen Fall voraus. Nalas,
der Fürſt von Niſchada, Damajanti's ſtrahlender Gemahl,
hat den Neid der Götter durch das Glück erregt, daß die
Schöne ihn den Göttern vorgezogen. Lange lauern ſie ihm
auf, ihm etwas anzuhaben, denn neidiſch und rachſüchtig
ſind die Indiſchen Götter nicht weniger, als die Griechiſchen.
Umſonſt. Der Edle erfüllt ſtreng alle Pflichten ſeiner Kaſte.
Endlich nach zwölf Jahren urinirt er einmal, vergißt die
vorgeſchriebene Reinigung, tritt mit dem Fuß in das urin¬
feuchte Gras — und gibt hiermit dem böſen Dämon Ge¬
legenheit, in ihn einzufahren. Der ihn immer ſchon umlun¬
gernde tückiſche Kalis nimmt Beſitz von ihm und verführt
ihn zunächſt zum Hazardſpiel. Man kann darüber ver¬
nünfteln, daß eine Religion ſo abſurde Vorſchriften mache.

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[365/0387] Beſeſſenſeins liegt noch ein Dualismus des Menſchlichen und des Teufliſchen. Der Beſeſſene wird vorgeſtellt, als wenn Dämone von ihm Beſitz genommen hätten und über ihn eine willkürliche Herrſchaft ausübten. Eine ſolche Dualität ver¬ ſchiedener Perſönlichkeiten in demſelben Organismus kann natürlich nicht ſchön ſein; einerſeits iſt die gleichſam ruhende Geſtalt des Beſeſſenen, anderſeits die excentriſche Bewegtheit vorhanden, welche die Gewalt der den Menſchen beſitzenden Dämone erzeugt. Bringt uns alſo die Malerei oder Poeſie eine ſolche Zerriſſenheit zur Anſchauung, ſo müſſen ſie zwiſchen der Naturgeſtalt und zwiſchen der von den Dämonen ge¬ machten gleichſam künſtlichen unterſcheiden. Da jedoch die Dämone von dem Menſchen nicht würden Beſitz haben nehmen können, wenn er ihnen nicht ſelber den Zugang zu ſich eröffnet hätte, ſo fällt dieſer Unterſchied im Grunde doch wieder weg. Alle Religionen ſtimmen in dieſer Auf¬ faſſung überein. Selbſt die Indiſche ſetzt die Schuld, alſo die Freiheit des Menſchen für ſolchen Fall voraus. Nalas, der Fürſt von Niſchada, Damajanti's ſtrahlender Gemahl, hat den Neid der Götter durch das Glück erregt, daß die Schöne ihn den Göttern vorgezogen. Lange lauern ſie ihm auf, ihm etwas anzuhaben, denn neidiſch und rachſüchtig ſind die Indiſchen Götter nicht weniger, als die Griechiſchen. Umſonſt. Der Edle erfüllt ſtreng alle Pflichten ſeiner Kaſte. Endlich nach zwölf Jahren urinirt er einmal, vergißt die vorgeſchriebene Reinigung, tritt mit dem Fuß in das urin¬ feuchte Gras — und gibt hiermit dem böſen Dämon Ge¬ legenheit, in ihn einzufahren. Der ihn immer ſchon umlun¬ gernde tückiſche Kalis nimmt Beſitz von ihm und verführt ihn zunächſt zum Hazardſpiel. Man kann darüber ver¬ nünfteln, daß eine Religion ſo abſurde Vorſchriften mache.

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/387>, abgerufen am 24.11.2024.