Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

das Gegentheil. Sie hält sich zwar auf einem Fuße, allein
sie drückt den andern an den Schenkel des erstern, als wenn
er einen Halt suchte. Die linke Hand stützt sich auf die
Hüfte, als wenn sie für sich selbst nicht Kraft genug hätte;
man findet hier die unästhetische Kreuzesform, die Glieder
gehen im Zickzack, und zu dem wunderlichen Ausdruck muß
selbst der rechte aufgehobene Arm beitragen, der sich zu einer
sonst graciös gewesenen Stellung in Bewegung setzt. Der
Standfuß, der aufgestützte Arm. das angeschlossene Knie,
alles gibt dem Ausdruck des Stationairen, des Beweglich¬
unbeweglichen: ein wahres Bild der traurigen Lemuren,
denen noch so viel Muskeln und Sehnen übrig bleiben, daß
sie sich kümmerlich bewegen können, damit sie nicht ganz
als durchsichtige Gerippe erscheinen und zusammenstürzen,
Aber auch in diesem widerwärtigen Zustande muß die Künstle¬
rin auf ihr gegenwärtiges Publicum noch immer belebend,
noch immer anziehend und kunstreich wirken. Das Verlangen
der herbeieilenden Menge, der Beifall, den die ruhig Zu¬
schauenden ihr widmen, sind hier in zwei Halbgespenstern
sehr köstlich symbolisirt. Sowohl jede Figur für sich, als
alle drei zusammen componiren vortrefflich und wirken in
Einem Sinne zu Einem Ausdruck. -- Was ist aber dieser
Sinn, was ist dieser Ausdruck? Die göttliche Kunst, welche
Alles zu veredeln und zu erhöhen weiß, mag auch das
Widerwärtige, das Abscheuliche nicht ablehnen. Eben hier
will sie ihr Majestätsrecht gewaltig ausüben; aber sie hat
nur Einen Weg, dies zu leisten: sie wird nicht Herr
vom Häßlichen
, als wenn sie es komisch behandelt;
wie denn ja Zeuxis sich über seine eigene ins Häßlichste
gebildete Hekuba zu Tode gelacht haben soll. -- Bekleide
man dieses gegenwärtige lemurische Scheusal mit weiblich

das Gegentheil. Sie hält ſich zwar auf einem Fuße, allein
ſie drückt den andern an den Schenkel des erſtern, als wenn
er einen Halt ſuchte. Die linke Hand ſtützt ſich auf die
Hüfte, als wenn ſie für ſich ſelbſt nicht Kraft genug hätte;
man findet hier die unäſthetiſche Kreuzesform, die Glieder
gehen im Zickzack, und zu dem wunderlichen Ausdruck muß
ſelbſt der rechte aufgehobene Arm beitragen, der ſich zu einer
ſonſt graciös geweſenen Stellung in Bewegung ſetzt. Der
Standfuß, der aufgeſtützte Arm. das angeſchloſſene Knie,
alles gibt dem Ausdruck des Stationairen, des Beweglich¬
unbeweglichen: ein wahres Bild der traurigen Lemuren,
denen noch ſo viel Muskeln und Sehnen übrig bleiben, daß
ſie ſich kümmerlich bewegen können, damit ſie nicht ganz
als durchſichtige Gerippe erſcheinen und zuſammenſtürzen,
Aber auch in dieſem widerwärtigen Zuſtande muß die Künſtle¬
rin auf ihr gegenwärtiges Publicum noch immer belebend,
noch immer anziehend und kunſtreich wirken. Das Verlangen
der herbeieilenden Menge, der Beifall, den die ruhig Zu¬
ſchauenden ihr widmen, ſind hier in zwei Halbgeſpenſtern
ſehr köſtlich ſymboliſirt. Sowohl jede Figur für ſich, als
alle drei zuſammen componiren vortrefflich und wirken in
Einem Sinne zu Einem Ausdruck. — Was iſt aber dieſer
Sinn, was iſt dieſer Ausdruck? Die göttliche Kunſt, welche
Alles zu veredeln und zu erhöhen weiß, mag auch das
Widerwärtige, das Abſcheuliche nicht ablehnen. Eben hier
will ſie ihr Majeſtätsrecht gewaltig ausüben; aber ſie hat
nur Einen Weg, dies zu leiſten: ſie wird nicht Herr
vom Häßlichen
, als wenn ſie es komiſch behandelt;
wie denn ja Zeuxis ſich über ſeine eigene ins Häßlichſte
gebildete Hekuba zu Tode gelacht haben ſoll. — Bekleide
man dieſes gegenwärtige lemuriſche Scheuſal mit weiblich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0362" n="340"/>
das Gegentheil. Sie hält &#x017F;ich zwar auf einem Fuße, allein<lb/>
&#x017F;ie drückt den andern an den Schenkel des er&#x017F;tern, als wenn<lb/>
er einen Halt &#x017F;uchte. Die linke Hand &#x017F;tützt &#x017F;ich auf die<lb/>
Hüfte, als wenn &#x017F;ie für &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t nicht Kraft genug hätte;<lb/>
man findet hier die unä&#x017F;theti&#x017F;che Kreuzesform, die Glieder<lb/>
gehen im Zickzack, und zu dem wunderlichen Ausdruck muß<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t der rechte aufgehobene Arm beitragen, der &#x017F;ich zu einer<lb/>
&#x017F;on&#x017F;t graciös gewe&#x017F;enen Stellung in Bewegung &#x017F;etzt. Der<lb/>
Standfuß, der aufge&#x017F;tützte Arm. das ange&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;ene Knie,<lb/>
alles gibt dem Ausdruck des Stationairen, des Beweglich¬<lb/>
unbeweglichen: ein wahres Bild der traurigen Lemuren,<lb/>
denen noch &#x017F;o viel Muskeln und Sehnen übrig bleiben, daß<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ich kümmerlich bewegen können, damit &#x017F;ie nicht ganz<lb/>
als durch&#x017F;ichtige Gerippe er&#x017F;cheinen und zu&#x017F;ammen&#x017F;türzen,<lb/>
Aber auch in die&#x017F;em widerwärtigen Zu&#x017F;tande muß die Kün&#x017F;tle¬<lb/>
rin auf ihr gegenwärtiges Publicum noch immer belebend,<lb/>
noch immer anziehend und kun&#x017F;treich wirken. Das Verlangen<lb/>
der herbeieilenden Menge, der Beifall, den die ruhig Zu¬<lb/>
&#x017F;chauenden ihr widmen, &#x017F;ind hier in zwei Halbge&#x017F;pen&#x017F;tern<lb/>
&#x017F;ehr kö&#x017F;tlich &#x017F;ymboli&#x017F;irt. Sowohl jede Figur für &#x017F;ich, als<lb/>
alle drei zu&#x017F;ammen componiren vortrefflich und wirken in<lb/>
Einem Sinne zu Einem Ausdruck. &#x2014; Was i&#x017F;t aber die&#x017F;er<lb/>
Sinn, was i&#x017F;t die&#x017F;er Ausdruck? Die göttliche Kun&#x017F;t, welche<lb/>
Alles zu veredeln und zu erhöhen weiß, mag auch das<lb/>
Widerwärtige, das Ab&#x017F;cheuliche nicht ablehnen. Eben hier<lb/>
will &#x017F;ie ihr Maje&#x017F;tätsrecht gewaltig ausüben; aber &#x017F;ie hat<lb/>
nur Einen Weg, dies zu lei&#x017F;ten: <hi rendition="#g">&#x017F;ie wird nicht Herr<lb/>
vom Häßlichen</hi>, <hi rendition="#g">als wenn &#x017F;ie es komi&#x017F;ch behandelt</hi>;<lb/>
wie denn ja Zeuxis &#x017F;ich über &#x017F;eine eigene ins Häßlich&#x017F;te<lb/>
gebildete Hekuba zu Tode gelacht haben &#x017F;oll. &#x2014; Bekleide<lb/>
man die&#x017F;es gegenwärtige lemuri&#x017F;che Scheu&#x017F;al mit weiblich<lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[340/0362] das Gegentheil. Sie hält ſich zwar auf einem Fuße, allein ſie drückt den andern an den Schenkel des erſtern, als wenn er einen Halt ſuchte. Die linke Hand ſtützt ſich auf die Hüfte, als wenn ſie für ſich ſelbſt nicht Kraft genug hätte; man findet hier die unäſthetiſche Kreuzesform, die Glieder gehen im Zickzack, und zu dem wunderlichen Ausdruck muß ſelbſt der rechte aufgehobene Arm beitragen, der ſich zu einer ſonſt graciös geweſenen Stellung in Bewegung ſetzt. Der Standfuß, der aufgeſtützte Arm. das angeſchloſſene Knie, alles gibt dem Ausdruck des Stationairen, des Beweglich¬ unbeweglichen: ein wahres Bild der traurigen Lemuren, denen noch ſo viel Muskeln und Sehnen übrig bleiben, daß ſie ſich kümmerlich bewegen können, damit ſie nicht ganz als durchſichtige Gerippe erſcheinen und zuſammenſtürzen, Aber auch in dieſem widerwärtigen Zuſtande muß die Künſtle¬ rin auf ihr gegenwärtiges Publicum noch immer belebend, noch immer anziehend und kunſtreich wirken. Das Verlangen der herbeieilenden Menge, der Beifall, den die ruhig Zu¬ ſchauenden ihr widmen, ſind hier in zwei Halbgeſpenſtern ſehr köſtlich ſymboliſirt. Sowohl jede Figur für ſich, als alle drei zuſammen componiren vortrefflich und wirken in Einem Sinne zu Einem Ausdruck. — Was iſt aber dieſer Sinn, was iſt dieſer Ausdruck? Die göttliche Kunſt, welche Alles zu veredeln und zu erhöhen weiß, mag auch das Widerwärtige, das Abſcheuliche nicht ablehnen. Eben hier will ſie ihr Majeſtätsrecht gewaltig ausüben; aber ſie hat nur Einen Weg, dies zu leiſten: ſie wird nicht Herr vom Häßlichen, als wenn ſie es komiſch behandelt; wie denn ja Zeuxis ſich über ſeine eigene ins Häßlichſte gebildete Hekuba zu Tode gelacht haben ſoll. — Bekleide man dieſes gegenwärtige lemuriſche Scheuſal mit weiblich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/362
Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/362>, abgerufen am 24.11.2024.