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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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im Sinn des gemeinen Verbrechers schuldig ist. Es sind
hier drei Fälle möglich. Erstlich kann das Verbrechen nicht
als Verbrechen begangen werden; es ist eine Schuld, aber
eine, indem sie begangen wurde, nicht als Verbrechen voll¬
brachte. Zweitens kann das Verbrechen mit dem vollkom¬
mensten Bewußtsein über seine Bosheit begangen werden.
Drittens kann die Schuld in der Unschuld bestehen, die von
der Brutalität aufgeopfert wird. Für den ersten Fall ist
der Sophokleische Oedipus, für den zweiten Shakespeare's
Richard III., für den dritten Lessings Emilie Galotti
das bekannteste Beispiel. Wir sind hiermit bei dem Tra¬
gischen
angelangt, dessen Wesen einer besondern Ausein¬
andersetzung nicht bedarf. Das Verbrechen im erstern Fall
wird ästhetisch möglich, weil es, obwohl ein Werk der Frei¬
heit des Einzelnen, doch nicht eigentlich That ist. Vollbracht
wird es eigentlich von der Nothwendigkeit des pragmati¬
schen Causalnerus und eben hiermit wird dem Verbrechen die
persönliche Häßlichkeit genommen. Im zweiten Fall wird
das Verbrechen durch das gerade Gegentheil ästhetisch mög¬
lich, nämlich durch die vollkommenste selbstbewußte Freiheit.
Der Böse kann uns natürlich durch den Inhalt seines Thuns
nur Abscheu erwecken; durch die Form seines Handelns aber
schauen wir die Freiheit von ihrer formalen Seite, nämlich
der Selbstbestimmung, auf dem Gipfel ihrer Virtuosität an.
Daß ein solcher Bösewicht in dem gesammten Complex der
Umstände auch durch sein für ihn ungerechtes Handeln doch
zugleich in anderer Beziehung ein Organ der göttlichen Ge¬
rechtigkeit werden kann, würde ihn ästhetisch noch nicht er¬
träglicher machen. Aber seine außerordentliche Intelligenz
und die riesige Stärke seines Willens bringen einen dämo¬
nischen Eindruck hervor, denn die Virtuosität der subjectiven

im Sinn des gemeinen Verbrechers ſchuldig iſt. Es ſind
hier drei Fälle möglich. Erſtlich kann das Verbrechen nicht
als Verbrechen begangen werden; es iſt eine Schuld, aber
eine, indem ſie begangen wurde, nicht als Verbrechen voll¬
brachte. Zweitens kann das Verbrechen mit dem vollkom¬
menſten Bewußtſein über ſeine Bosheit begangen werden.
Drittens kann die Schuld in der Unſchuld beſtehen, die von
der Brutalität aufgeopfert wird. Für den erſten Fall iſt
der Sophokleiſche Oedipus, für den zweiten Shakeſpeare's
Richard III., für den dritten Leſſings Emilie Galotti
das bekannteſte Beiſpiel. Wir ſind hiermit bei dem Tra¬
giſchen
angelangt, deſſen Weſen einer beſondern Ausein¬
anderſetzung nicht bedarf. Das Verbrechen im erſtern Fall
wird äſthetiſch möglich, weil es, obwohl ein Werk der Frei¬
heit des Einzelnen, doch nicht eigentlich That iſt. Vollbracht
wird es eigentlich von der Nothwendigkeit des pragmati¬
ſchen Cauſalnerus und eben hiermit wird dem Verbrechen die
perſönliche Häßlichkeit genommen. Im zweiten Fall wird
das Verbrechen durch das gerade Gegentheil äſthetiſch mög¬
lich, nämlich durch die vollkommenſte ſelbſtbewußte Freiheit.
Der Böſe kann uns natürlich durch den Inhalt ſeines Thuns
nur Abſcheu erwecken; durch die Form ſeines Handelns aber
ſchauen wir die Freiheit von ihrer formalen Seite, nämlich
der Selbſtbeſtimmung, auf dem Gipfel ihrer Virtuoſität an.
Daß ein ſolcher Böſewicht in dem geſammten Complex der
Umſtände auch durch ſein für ihn ungerechtes Handeln doch
zugleich in anderer Beziehung ein Organ der göttlichen Ge¬
rechtigkeit werden kann, würde ihn äſthetiſch noch nicht er¬
träglicher machen. Aber ſeine außerordentliche Intelligenz
und die rieſige Stärke ſeines Willens bringen einen dämo¬
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[330/0352] im Sinn des gemeinen Verbrechers ſchuldig iſt. Es ſind hier drei Fälle möglich. Erſtlich kann das Verbrechen nicht als Verbrechen begangen werden; es iſt eine Schuld, aber eine, indem ſie begangen wurde, nicht als Verbrechen voll¬ brachte. Zweitens kann das Verbrechen mit dem vollkom¬ menſten Bewußtſein über ſeine Bosheit begangen werden. Drittens kann die Schuld in der Unſchuld beſtehen, die von der Brutalität aufgeopfert wird. Für den erſten Fall iſt der Sophokleiſche Oedipus, für den zweiten Shakeſpeare's Richard III., für den dritten Leſſings Emilie Galotti das bekannteſte Beiſpiel. Wir ſind hiermit bei dem Tra¬ giſchen angelangt, deſſen Weſen einer beſondern Ausein¬ anderſetzung nicht bedarf. Das Verbrechen im erſtern Fall wird äſthetiſch möglich, weil es, obwohl ein Werk der Frei¬ heit des Einzelnen, doch nicht eigentlich That iſt. Vollbracht wird es eigentlich von der Nothwendigkeit des pragmati¬ ſchen Cauſalnerus und eben hiermit wird dem Verbrechen die perſönliche Häßlichkeit genommen. Im zweiten Fall wird das Verbrechen durch das gerade Gegentheil äſthetiſch mög¬ lich, nämlich durch die vollkommenſte ſelbſtbewußte Freiheit. Der Böſe kann uns natürlich durch den Inhalt ſeines Thuns nur Abſcheu erwecken; durch die Form ſeines Handelns aber ſchauen wir die Freiheit von ihrer formalen Seite, nämlich der Selbſtbeſtimmung, auf dem Gipfel ihrer Virtuoſität an. Daß ein ſolcher Böſewicht in dem geſammten Complex der Umſtände auch durch ſein für ihn ungerechtes Handeln doch zugleich in anderer Beziehung ein Organ der göttlichen Ge¬ rechtigkeit werden kann, würde ihn äſthetiſch noch nicht er¬ träglicher machen. Aber ſeine außerordentliche Intelligenz und die rieſige Stärke ſeines Willens bringen einen dämo¬ niſchen Eindruck hervor, denn die Virtuoſität der ſubjectiven

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/352>, abgerufen am 22.11.2024.