Das furchtbarste Product dieser Sphäre, le nom de Famille von August Luchet, ist glücklicherweise, so viel uns be¬ kannt, nicht ins Deutsche übersetzt. Die kindische, im letzten Decennium bis zu einem für eine große Nation scandalösen Wetteifer ausgeartete Gier der Deutschen, die Romane der Engländer und Franzosen zu übersetzen, während sie noch erscheinen und bevor noch ein Urtheil über ihren ethischen und ästhetischen Werth möglich ist, erklärt vielleicht die Schwäche, die wir selber auf diesem Gebiet zeigen. Nur im Ritter- und Räuberroman begehen auch wir noch immer die empörendsten Verbrechen mit einer gewissen naiven Origi¬ nalität, die aber zu geschmacklos ist, das Interesse der Fran¬ zosen und Engländer zu erregen und ihnen zur Uebersetzung Lust einzuflößen (75).
Gehen wir aus der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft heraus, so wird das Verbrechen wiederum ästhetischer durch Motive, welche den höhern Gebieten des Staates oder der Religion entnommen sind, denn mit solcher Begründung wird der Einzelne aus dem beschränkten Kreise kleinlich egoistischer Antriebe und untergeordneter Zufälligkeiten heraus gerissen. Die Verbrechen, die begangen werden, sind mate¬ riell dieselben, wie in der bürgerlichen Sphäre, Verrath, Ehebruch, Gewaltthat, Mord. Allein indem sie ihren Ur¬ sprung aus allgemeineren Verhältnissen entnehmen, erwerben sie sich das Recht einer gewissen Nothwendigkeit, und indem mit dem Leben hervorragender, insbesondere fürstlicher Per¬ sönlichkeiten, unmittelbar große Veränderungen des Staats und der Gesellschaft unmittelbar verknüpft sind, steigert sich unsere Theilnahme. Durch die Verwicklung der großen Mächte des Lebens werden Conflicte möglich, die den Ein¬ zelnen schuldig werden lassen, indem er doch zugleich nicht
Das furchtbarſte Product dieſer Sphäre, le nom de Famille von Auguſt Luchet, iſt glücklicherweiſe, ſo viel uns be¬ kannt, nicht ins Deutſche überſetzt. Die kindiſche, im letzten Decennium bis zu einem für eine große Nation ſcandalöſen Wetteifer ausgeartete Gier der Deutſchen, die Romane der Engländer und Franzoſen zu überſetzen, während ſie noch erſcheinen und bevor noch ein Urtheil über ihren ethiſchen und äſthetiſchen Werth möglich iſt, erklärt vielleicht die Schwäche, die wir ſelber auf dieſem Gebiet zeigen. Nur im Ritter- und Räuberroman begehen auch wir noch immer die empörendſten Verbrechen mit einer gewiſſen naiven Origi¬ nalität, die aber zu geſchmacklos iſt, das Intereſſe der Fran¬ zoſen und Engländer zu erregen und ihnen zur Ueberſetzung Luſt einzuflößen (75).
Gehen wir aus der Sphäre der bürgerlichen Geſellſchaft heraus, ſo wird das Verbrechen wiederum äſthetiſcher durch Motive, welche den höhern Gebieten des Staates oder der Religion entnommen ſind, denn mit ſolcher Begründung wird der Einzelne aus dem beſchränkten Kreiſe kleinlich egoiſtiſcher Antriebe und untergeordneter Zufälligkeiten heraus geriſſen. Die Verbrechen, die begangen werden, ſind mate¬ riell dieſelben, wie in der bürgerlichen Sphäre, Verrath, Ehebruch, Gewaltthat, Mord. Allein indem ſie ihren Ur¬ ſprung aus allgemeineren Verhältniſſen entnehmen, erwerben ſie ſich das Recht einer gewiſſen Nothwendigkeit, und indem mit dem Leben hervorragender, insbeſondere fürſtlicher Per¬ ſönlichkeiten, unmittelbar große Veränderungen des Staats und der Geſellſchaft unmittelbar verknüpft ſind, ſteigert ſich unſere Theilnahme. Durch die Verwicklung der großen Mächte des Lebens werden Conflicte möglich, die den Ein¬ zelnen ſchuldig werden laſſen, indem er doch zugleich nicht
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Das furchtbarſte Product dieſer Sphäre, le nom de Famille
von Auguſt Luchet, iſt glücklicherweiſe, ſo viel uns be¬
kannt, nicht ins Deutſche überſetzt. Die kindiſche, im letzten
Decennium bis zu einem für eine große Nation ſcandalöſen
Wetteifer ausgeartete Gier der Deutſchen, die Romane der
Engländer und Franzoſen zu überſetzen, während ſie noch
erſcheinen und bevor noch ein Urtheil über ihren ethiſchen
und äſthetiſchen Werth möglich iſt, erklärt vielleicht die
Schwäche, die wir ſelber auf dieſem Gebiet zeigen. Nur im
Ritter- und Räuberroman begehen auch wir noch immer
die empörendſten Verbrechen mit einer gewiſſen naiven Origi¬
nalität, die aber zu geſchmacklos iſt, das Intereſſe der Fran¬
zoſen und Engländer zu erregen und ihnen zur Ueberſetzung
Luſt einzuflößen (75).
Gehen wir aus der Sphäre der bürgerlichen Geſellſchaft
heraus, ſo wird das Verbrechen wiederum äſthetiſcher durch
Motive, welche den höhern Gebieten des Staates oder der
Religion entnommen ſind, denn mit ſolcher Begründung
wird der Einzelne aus dem beſchränkten Kreiſe kleinlich
egoiſtiſcher Antriebe und untergeordneter Zufälligkeiten heraus
geriſſen. Die Verbrechen, die begangen werden, ſind mate¬
riell dieſelben, wie in der bürgerlichen Sphäre, Verrath,
Ehebruch, Gewaltthat, Mord. Allein indem ſie ihren Ur¬
ſprung aus allgemeineren Verhältniſſen entnehmen, erwerben
ſie ſich das Recht einer gewiſſen Nothwendigkeit, und indem
mit dem Leben hervorragender, insbeſondere fürſtlicher Per¬
ſönlichkeiten, unmittelbar große Veränderungen des Staats
und der Geſellſchaft unmittelbar verknüpft ſind, ſteigert ſich
unſere Theilnahme. Durch die Verwicklung der großen
Mächte des Lebens werden Conflicte möglich, die den Ein¬
zelnen ſchuldig werden laſſen, indem er doch zugleich nicht
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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/351>, abgerufen am 22.11.2024.
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