Der bloße Verstand hält Vieles für absurd, was es so wenig ist, daß es vielmehr das Vernünftige selber ist. Wir müssen diese Dialektik, die im Endlichen liegt, wohl im Auge behalten, die Grenzen des Abgeschmackten genau zu erkennen und seine Verwandtschaft mit dem Lächerlichen zu begreifen.
Es erhellt aus dem Gesagten schon, daß das völlig Sinnlose ohne tiefere Motivirung, ein pures Chaos zufäl¬ liger Widersprüche, für die Kunst schlechthin verwerflich ist. Wer soll an ihm ein Interesse nehmen, es wäre denn der Psychiatriker, wie z. B. Hohenbaum in seiner trefflichen Abhandlung über: Psychische Gesundheit und Irresein in ihren Uebergängen, 1845 S. 54. ff. von einem an Zer¬ streuung leidenden Lehrer solche Unsinnigkeiten aufführt. Dieser Mann versprach sich häufig und sagte z. B.: "Jeru¬ salem war damals in den Feinden der Türken. -- Sehen Sie, dieser Satz ist klar verwickelt, indessen es ist gar nichts Verwickeltes darin. -- Hannibal band den Fluß ans linke Ufer und ließ Sand darauf streuen, daß die Elephanten besser überschreiten könnten. -- Die Kaiserin starb und hin¬ terließ einen ungeborenen Knaben. -- Die Lacedämonier trugen damals einen Pileus auf dem Hute. -- Ajax nahm einen Stein und warf damit dem Ajax so auf den Kopf, daß er starb u. s. w." An dergleichen, wie gesagt, kann nicht die Aesthetik, nur die Psychiatrie, ein Interesse nehmen. Es läßt sich nicht leugnen, daß ein nicht geringer Theil der poetischen Literatur unsers Jahrhunderts eigentlich nur unter diese Kategorie gehört. Von Seiten der superstitiös und bornirt gewordenen Reaction sowohl, als von Seiten der atheistisch und libertin gewordenen Revolution, sind in Eng¬ land, Frankreich und Deutschland genug Producte, namentlich
Der bloße Verſtand hält Vieles für abſurd, was es ſo wenig iſt, daß es vielmehr das Vernünftige ſelber iſt. Wir müſſen dieſe Dialektik, die im Endlichen liegt, wohl im Auge behalten, die Grenzen des Abgeſchmackten genau zu erkennen und ſeine Verwandtſchaft mit dem Lächerlichen zu begreifen.
Es erhellt aus dem Geſagten ſchon, daß das völlig Sinnloſe ohne tiefere Motivirung, ein pures Chaos zufäl¬ liger Widerſprüche, für die Kunſt ſchlechthin verwerflich iſt. Wer ſoll an ihm ein Intereſſe nehmen, es wäre denn der Pſychiatriker, wie z. B. Hohenbaum in ſeiner trefflichen Abhandlung über: Pſychiſche Geſundheit und Irreſein in ihren Uebergängen, 1845 S. 54. ff. von einem an Zer¬ ſtreuung leidenden Lehrer ſolche Unſinnigkeiten aufführt. Dieſer Mann verſprach ſich häufig und ſagte z. B.: „Jeru¬ ſalem war damals in den Feinden der Türken. — Sehen Sie, dieſer Satz iſt klar verwickelt, indeſſen es iſt gar nichts Verwickeltes darin. — Hannibal band den Fluß ans linke Ufer und ließ Sand darauf ſtreuen, daß die Elephanten beſſer überſchreiten könnten. — Die Kaiſerin ſtarb und hin¬ terließ einen ungeborenen Knaben. — Die Lacedämonier trugen damals einen Pileus auf dem Hute. — Ajax nahm einen Stein und warf damit dem Ajax ſo auf den Kopf, daß er ſtarb u. ſ. w.“ An dergleichen, wie geſagt, kann nicht die Aeſthetik, nur die Pſychiatrie, ein Intereſſe nehmen. Es läßt ſich nicht leugnen, daß ein nicht geringer Theil der poetiſchen Literatur unſers Jahrhunderts eigentlich nur unter dieſe Kategorie gehört. Von Seiten der ſuperſtitiös und bornirt gewordenen Reaction ſowohl, als von Seiten der atheiſtiſch und libertin gewordenen Revolution, ſind in Eng¬ land, Frankreich und Deutſchland genug Producte, namentlich
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Der bloße Verſtand hält Vieles für abſurd, was es ſo
wenig iſt, daß es vielmehr das Vernünftige ſelber iſt. Wir
müſſen dieſe Dialektik, die im Endlichen liegt, wohl im
Auge behalten, die Grenzen des Abgeſchmackten genau zu
erkennen und ſeine Verwandtſchaft mit dem Lächerlichen zu
begreifen.
Es erhellt aus dem Geſagten ſchon, daß das völlig
Sinnloſe ohne tiefere Motivirung, ein pures Chaos zufäl¬
liger Widerſprüche, für die Kunſt ſchlechthin verwerflich iſt.
Wer ſoll an ihm ein Intereſſe nehmen, es wäre denn der
Pſychiatriker, wie z. B. Hohenbaum in ſeiner trefflichen
Abhandlung über: Pſychiſche Geſundheit und Irreſein in
ihren Uebergängen, 1845 S. 54. ff. von einem an Zer¬
ſtreuung leidenden Lehrer ſolche Unſinnigkeiten aufführt.
Dieſer Mann verſprach ſich häufig und ſagte z. B.: „Jeru¬
ſalem war damals in den Feinden der Türken. — Sehen
Sie, dieſer Satz iſt klar verwickelt, indeſſen es iſt gar nichts
Verwickeltes darin. — Hannibal band den Fluß ans linke
Ufer und ließ Sand darauf ſtreuen, daß die Elephanten
beſſer überſchreiten könnten. — Die Kaiſerin ſtarb und hin¬
terließ einen ungeborenen Knaben. — Die Lacedämonier
trugen damals einen Pileus auf dem Hute. — Ajax nahm
einen Stein und warf damit dem Ajax ſo auf den Kopf,
daß er ſtarb u. ſ. w.“ An dergleichen, wie geſagt, kann
nicht die Aeſthetik, nur die Pſychiatrie, ein Intereſſe nehmen.
Es läßt ſich nicht leugnen, daß ein nicht geringer Theil der
poetiſchen Literatur unſers Jahrhunderts eigentlich nur unter
dieſe Kategorie gehört. Von Seiten der ſuperſtitiös und
bornirt gewordenen Reaction ſowohl, als von Seiten der
atheiſtiſch und libertin gewordenen Revolution, ſind in Eng¬
land, Frankreich und Deutſchland genug Producte, namentlich
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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/324>, abgerufen am 22.11.2024.
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