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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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des jüngern Dumas ist das treu geschilderte Sterben der
Lorette zur interessantesten Brutalität für das Publicum
geworden.

Obschon es unsere Aufgabe ist, den Begriff des Hä߬
lichen zu entwickeln, so wollen wir doch nicht anstehen, zu
bekennen, daß es uns, bei allem wissenschaftlichen Muth,
unmöglich fällt, uns noch in diejenige Form des Brutalen
zu vertiefen, welche durch die Verbindung der Grausamkeit
mit der Wollust und durch die Unnatur der Wollust entsteht.
Die Annalen der Kunstgeschichte sind leider überreich an
solchen Producten. Wir begnügen uns, aus der Deutschen
Literatur nur an Lohensteins Agrippina zu erinnern (57).
Nothzucht, gröbere und feinere, ist natürlich die Lieblings¬
brutalität aus diesem Gebiet.

Das Brutale kann auch in's Komische gewendet werden.
Diese Wendung wird als Parodie am Gewöhnlichsten sein,
wie in neuerer Zeit die Münchener Fliegenden Blätter
das Brutale in Bänkelsängerballaden und in kleinen tragi¬
komödischen Actionen oft köstlich persiflirt haben und die
Marionettentheater zu Paris und London (58) mit solcher
Parodie die Unnatur der Situationen und das geschraubte,
falsche Pathos, worin die Tragödie epochenweise verfiel, ab¬
sichtlich geißelten. Jedoch kann die komische Wendung auch
ohne Parodie möglich werden. Der Raub der Sabine¬
rinnen
ist an sich eine Gewaltthat; der plötzliche Ueberfall
der Jungfrauen ist brutal; indem hier aber das Urverhältniß
der Geschlechter intervenirt, mildert sich Angst und Schrecken!
Die Bildhauer und Maler haben diesen Vorfall daher sehr
gern dargestellt, weil sie durch ihn Gelegenheit haben, die
erschreckten Mienen zugleich mit dem Ausdruck süßen Er¬
bangens, das Sträuben der Scham mit unwillkürlicher Hin¬

des jüngern Dumas iſt das treu geſchilderte Sterben der
Lorette zur intereſſanteſten Brutalität für das Publicum
geworden.

Obſchon es unſere Aufgabe iſt, den Begriff des Hä߬
lichen zu entwickeln, ſo wollen wir doch nicht anſtehen, zu
bekennen, daß es uns, bei allem wiſſenſchaftlichen Muth,
unmöglich fällt, uns noch in diejenige Form des Brutalen
zu vertiefen, welche durch die Verbindung der Grauſamkeit
mit der Wolluſt und durch die Unnatur der Wolluſt entſteht.
Die Annalen der Kunſtgeſchichte ſind leider überreich an
ſolchen Producten. Wir begnügen uns, aus der Deutſchen
Literatur nur an Lohenſteins Agrippina zu erinnern (57).
Nothzucht, gröbere und feinere, iſt natürlich die Lieblings¬
brutalität aus dieſem Gebiet.

Das Brutale kann auch in's Komiſche gewendet werden.
Dieſe Wendung wird als Parodie am Gewöhnlichſten ſein,
wie in neuerer Zeit die Münchener Fliegenden Blätter
das Brutale in Bänkelſängerballaden und in kleinen tragi¬
komödiſchen Actionen oft köſtlich perſiflirt haben und die
Marionettentheater zu Paris und London (58) mit ſolcher
Parodie die Unnatur der Situationen und das geſchraubte,
falſche Pathos, worin die Tragödie epochenweiſe verfiel, ab¬
ſichtlich geißelten. Jedoch kann die komiſche Wendung auch
ohne Parodie möglich werden. Der Raub der Sabine¬
rinnen
iſt an ſich eine Gewaltthat; der plötzliche Ueberfall
der Jungfrauen iſt brutal; indem hier aber das Urverhältniß
der Geſchlechter intervenirt, mildert ſich Angſt und Schrecken!
Die Bildhauer und Maler haben dieſen Vorfall daher ſehr
gern dargeſtellt, weil ſie durch ihn Gelegenheit haben, die
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bangens, das Sträuben der Scham mit unwillkürlicher Hin¬

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[262/0284] des jüngern Dumas iſt das treu geſchilderte Sterben der Lorette zur intereſſanteſten Brutalität für das Publicum geworden. Obſchon es unſere Aufgabe iſt, den Begriff des Hä߬ lichen zu entwickeln, ſo wollen wir doch nicht anſtehen, zu bekennen, daß es uns, bei allem wiſſenſchaftlichen Muth, unmöglich fällt, uns noch in diejenige Form des Brutalen zu vertiefen, welche durch die Verbindung der Grauſamkeit mit der Wolluſt und durch die Unnatur der Wolluſt entſteht. Die Annalen der Kunſtgeſchichte ſind leider überreich an ſolchen Producten. Wir begnügen uns, aus der Deutſchen Literatur nur an Lohenſteins Agrippina zu erinnern (57). Nothzucht, gröbere und feinere, iſt natürlich die Lieblings¬ brutalität aus dieſem Gebiet. Das Brutale kann auch in's Komiſche gewendet werden. Dieſe Wendung wird als Parodie am Gewöhnlichſten ſein, wie in neuerer Zeit die Münchener Fliegenden Blätter das Brutale in Bänkelſängerballaden und in kleinen tragi¬ komödiſchen Actionen oft köſtlich perſiflirt haben und die Marionettentheater zu Paris und London (58) mit ſolcher Parodie die Unnatur der Situationen und das geſchraubte, falſche Pathos, worin die Tragödie epochenweiſe verfiel, ab¬ ſichtlich geißelten. Jedoch kann die komiſche Wendung auch ohne Parodie möglich werden. Der Raub der Sabine¬ rinnen iſt an ſich eine Gewaltthat; der plötzliche Ueberfall der Jungfrauen iſt brutal; indem hier aber das Urverhältniß der Geſchlechter intervenirt, mildert ſich Angſt und Schrecken! Die Bildhauer und Maler haben dieſen Vorfall daher ſehr gern dargeſtellt, weil ſie durch ihn Gelegenheit haben, die erſchreckten Mienen zugleich mit dem Ausdruck ſüßen Er¬ bangens, das Sträuben der Scham mit unwillkürlicher Hin¬

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/284>, abgerufen am 22.11.2024.