gleichen berichten, so schaudern wir über die Brutalität, zu welcher sich die Menschheit verirren kann; wenn wir uns aber solche Scheußlichkeiten mit dem Anspruch dargeboten sehen, Poesie darin zu finden, so fühlen wir uns ethisch und ästhetisch zugleich vernichtet. Beaumont und Fletcher haben diesen Fehler oft gemacht; er ist auch Lohensteins Fehler in seinen Dramen; er ist der Fehler so vieler Pro¬ ducte der neuern Französischen Hyperromantik, wie jetzt in der Cameliendame des jüngern Dumas; der Fehler Sue's in vielen Partieen seiner Pariser Mysterien z. B. in der medicinisch correcten Beschreibung des amor furens; -- alle Phantasie reicht nicht hin, das entsetzlich Prosaische, das einmal in der Sache liegt, zu vertilgen. Auch Diderot hat in seiner Religieuse einen abschreckenden Beleg hierzu gegeben. Unter dem culturhistorischen Gesichtspunct ist dies Buch gewiß eines der wichtigsten Vermächtnisse des acht¬ zehnten Jahrhunderts, denn an intimer Kenntniß der furcht¬ baren Geheimnisse der Nonnenklöster übertrifft es sogar die Geschichte der schwarzen Nonne von Mont Real in Canada. Und welche einfache, hinreißende Darstellung! Unter dem ästhetischen Gesichtspunct aber ist diese Schilderung durch¬ aus verwerflich, denn eine dicke, wollüstige Aebtessin, die ihre Nonnen zu Lesbischen Sünden zwingt, ist ein unpoetisches Scheusal. Freilich könnte Diderot sagen, weshalb wir ihm die Prätension aufdrängten, einen Roman, ein Kunstwerk gegeben zu haben; allein er selbst, wie Naigeon (51) be¬ richtet, überzeugte sich, auch ohne solchen Anspruch zu machen, von der Gefährlichkeit seiner Darstellungen und wollte sie sogar castigiren, woran ihn jedoch seine Krankheit, an welcher er starb, hinderte. Auch in Jacques le fataliste finden wir eine Art Entschuldigung für die Nüditäten, die
gleichen berichten, ſo ſchaudern wir über die Brutalität, zu welcher ſich die Menſchheit verirren kann; wenn wir uns aber ſolche Scheußlichkeiten mit dem Anſpruch dargeboten ſehen, Poeſie darin zu finden, ſo fühlen wir uns ethiſch und äſthetiſch zugleich vernichtet. Beaumont und Fletcher haben dieſen Fehler oft gemacht; er iſt auch Lohenſteins Fehler in ſeinen Dramen; er iſt der Fehler ſo vieler Pro¬ ducte der neuern Franzöſiſchen Hyperromantik, wie jetzt in der Caméliendame des jüngern Dumas; der Fehler Sue's in vielen Partieen ſeiner Pariſer Myſterien z. B. in der mediciniſch correcten Beſchreibung des amor furens; — alle Phantaſie reicht nicht hin, das entſetzlich Proſaiſche, das einmal in der Sache liegt, zu vertilgen. Auch Diderot hat in ſeiner Réligieuse einen abſchreckenden Beleg hierzu gegeben. Unter dem culturhiſtoriſchen Geſichtspunct iſt dies Buch gewiß eines der wichtigſten Vermächtniſſe des acht¬ zehnten Jahrhunderts, denn an intimer Kenntniß der furcht¬ baren Geheimniſſe der Nonnenklöſter übertrifft es ſogar die Geſchichte der ſchwarzen Nonne von Mont Real in Canada. Und welche einfache, hinreißende Darſtellung! Unter dem äſthetiſchen Geſichtspunct aber iſt dieſe Schilderung durch¬ aus verwerflich, denn eine dicke, wollüſtige Aebteſſin, die ihre Nonnen zu Lesbiſchen Sünden zwingt, iſt ein unpoetiſches Scheuſal. Freilich könnte Diderot ſagen, weshalb wir ihm die Prätenſion aufdrängten, einen Roman, ein Kunſtwerk gegeben zu haben; allein er ſelbſt, wie Naigeon (51) be¬ richtet, überzeugte ſich, auch ohne ſolchen Anſpruch zu machen, von der Gefährlichkeit ſeiner Darſtellungen und wollte ſie ſogar caſtigiren, woran ihn jedoch ſeine Krankheit, an welcher er ſtarb, hinderte. Auch in Jacques le fataliste finden wir eine Art Entſchuldigung für die Nüditäten, die
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gleichen berichten, ſo ſchaudern wir über die Brutalität, zu
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aber ſolche Scheußlichkeiten mit dem Anſpruch dargeboten
ſehen, Poeſie darin zu finden, ſo fühlen wir uns ethiſch
und äſthetiſch zugleich vernichtet. Beaumont und Fletcher
haben dieſen Fehler oft gemacht; er iſt auch Lohenſteins
Fehler in ſeinen Dramen; er iſt der Fehler ſo vieler Pro¬
ducte der neuern Franzöſiſchen Hyperromantik, wie jetzt in
der Cam é liendame des jüngern Dumas; der Fehler
Sue's in vielen Partieen ſeiner Pariſer Myſterien z. B. in
der mediciniſch correcten Beſchreibung des amor furens; —
alle Phantaſie reicht nicht hin, das entſetzlich Proſaiſche,
das einmal in der Sache liegt, zu vertilgen. Auch Diderot
hat in ſeiner Réligieuse einen abſchreckenden Beleg hierzu
gegeben. Unter dem culturhiſtoriſchen Geſichtspunct iſt dies
Buch gewiß eines der wichtigſten Vermächtniſſe des acht¬
zehnten Jahrhunderts, denn an intimer Kenntniß der furcht¬
baren Geheimniſſe der Nonnenklöſter übertrifft es ſogar die
Geſchichte der ſchwarzen Nonne von Mont Real in Canada.
Und welche einfache, hinreißende Darſtellung! Unter dem
äſthetiſchen Geſichtspunct aber iſt dieſe Schilderung durch¬
aus verwerflich, denn eine dicke, wollüſtige Aebteſſin, die ihre
Nonnen zu Lesbiſchen Sünden zwingt, iſt ein unpoetiſches
Scheuſal. Freilich könnte Diderot ſagen, weshalb wir ihm
die Prätenſion aufdrängten, einen Roman, ein Kunſtwerk
gegeben zu haben; allein er ſelbſt, wie Naigeon (51) be¬
richtet, überzeugte ſich, auch ohne ſolchen Anſpruch zu
machen, von der Gefährlichkeit ſeiner Darſtellungen und
wollte ſie ſogar caſtigiren, woran ihn jedoch ſeine Krankheit,
an welcher er ſtarb, hinderte. Auch in Jacques le fataliste
finden wir eine Art Entſchuldigung für die Nüditäten, die
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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/266>, abgerufen am 22.11.2024.
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