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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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die Worte geschrieben: Au bon jour des chiens! und alle
Welt lachte.

Von diesen Natürlichkeiten, die dem Menschen selbst
bei größter Vorsicht atopos khai akhairos passiren können,
ist die Gemeinheit des Obscönen verschieden, weil dasselbe
schamlos ist. Die Scham ist heilig und schön, denn sie
drückt das Gefühl des Geistes aus, seinem Wesen nach über
die Natur hinaus zu sein; naturlos kann er nicht sein, aber
naturfrei sollte er sein. Die Natur kennt die Scham nicht
und das liebe Vieh, wie man im Deutschen sagt, schämt sich
nicht; der Mensch aber, seines Unterschiedes von der Natur
sich innewerdend, schämt sich. Das Obscöne besteht in der
absichtlichen Verletzung der Scham. Schon eine zufällige
und unabsichtliche Entblößung erweckt Verlegenheit, vielleicht
einen peinlich komischen Moment, aber sie ist nicht obscön.
Bei Kindern, bei unbefangen Badenden, bei schönen Statuen
oder Bildern, die den nackten Körper in seiner Totalität
darstellen, wird Niemand von Obscönität reden, denn auch
die Natur ist göttlich und auch die Schamglieder sind an sich
ein eben so natürliches, gottgeschaffenes Organ, als Nase
und Mund. Feigenblätter aber, auf die Schamtheile von
Statuen geklebt, bringen schon obscöne Wirkungen hervor,
weil sie aufmerksam darauf machen und sie isoliren. Man
wolle dies nicht so verstehen, als sollte gesagt sein, daß die
Kunst nicht wohl thue, keusch zu sein; wir wollen nur be¬
merklich machen, daß Keuschheit und Prüderie nicht dasselbe
ist. Das Obscöne beginnt erst mit der sexuellen Beziehung,
weil das geschlechtliche Gefühl das Schamglied des Mannes
erregt und ihm eine häßliche Form gibt, die in diesem Zu¬
stande zur übrigen Gestalt in ein Mißverhältniß tritt. Das
Weib ist von der Natur schämiger behandelt worden, aber

die Worte geſchrieben: Au bon jour des chiens! und alle
Welt lachte.

Von dieſen Natürlichkeiten, die dem Menſchen ſelbſt
bei größter Vorſicht ἀτοπῶς χαὶ ἀχαιρῶς paſſiren können,
iſt die Gemeinheit des Obscönen verſchieden, weil daſſelbe
ſchamlos iſt. Die Scham iſt heilig und ſchön, denn ſie
drückt das Gefühl des Geiſtes aus, ſeinem Weſen nach über
die Natur hinaus zu ſein; naturlos kann er nicht ſein, aber
naturfrei ſollte er ſein. Die Natur kennt die Scham nicht
und das liebe Vieh, wie man im Deutſchen ſagt, ſchämt ſich
nicht; der Menſch aber, ſeines Unterſchiedes von der Natur
ſich innewerdend, ſchämt ſich. Das Obscöne beſteht in der
abſichtlichen Verletzung der Scham. Schon eine zufällige
und unabſichtliche Entblößung erweckt Verlegenheit, vielleicht
einen peinlich komiſchen Moment, aber ſie iſt nicht obscön.
Bei Kindern, bei unbefangen Badenden, bei ſchönen Statuen
oder Bildern, die den nackten Körper in ſeiner Totalität
darſtellen, wird Niemand von Obscönität reden, denn auch
die Natur iſt göttlich und auch die Schamglieder ſind an ſich
ein eben ſo natürliches, gottgeſchaffenes Organ, als Naſe
und Mund. Feigenblätter aber, auf die Schamtheile von
Statuen geklebt, bringen ſchon obscöne Wirkungen hervor,
weil ſie aufmerkſam darauf machen und ſie iſoliren. Man
wolle dies nicht ſo verſtehen, als ſollte geſagt ſein, daß die
Kunſt nicht wohl thue, keuſch zu ſein; wir wollen nur be¬
merklich machen, daß Keuſchheit und Prüderie nicht daſſelbe
iſt. Das Obscöne beginnt erſt mit der ſexuellen Beziehung,
weil das geſchlechtliche Gefühl das Schamglied des Mannes
erregt und ihm eine häßliche Form gibt, die in dieſem Zu¬
ſtande zur übrigen Geſtalt in ein Mißverhältniß tritt. Das
Weib iſt von der Natur ſchämiger behandelt worden, aber

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[235/0257] die Worte geſchrieben: Au bon jour des chiens! und alle Welt lachte. Von dieſen Natürlichkeiten, die dem Menſchen ſelbſt bei größter Vorſicht ἀτοπῶς χαὶ ἀχαιρῶς paſſiren können, iſt die Gemeinheit des Obscönen verſchieden, weil daſſelbe ſchamlos iſt. Die Scham iſt heilig und ſchön, denn ſie drückt das Gefühl des Geiſtes aus, ſeinem Weſen nach über die Natur hinaus zu ſein; naturlos kann er nicht ſein, aber naturfrei ſollte er ſein. Die Natur kennt die Scham nicht und das liebe Vieh, wie man im Deutſchen ſagt, ſchämt ſich nicht; der Menſch aber, ſeines Unterſchiedes von der Natur ſich innewerdend, ſchämt ſich. Das Obscöne beſteht in der abſichtlichen Verletzung der Scham. Schon eine zufällige und unabſichtliche Entblößung erweckt Verlegenheit, vielleicht einen peinlich komiſchen Moment, aber ſie iſt nicht obscön. Bei Kindern, bei unbefangen Badenden, bei ſchönen Statuen oder Bildern, die den nackten Körper in ſeiner Totalität darſtellen, wird Niemand von Obscönität reden, denn auch die Natur iſt göttlich und auch die Schamglieder ſind an ſich ein eben ſo natürliches, gottgeſchaffenes Organ, als Naſe und Mund. Feigenblätter aber, auf die Schamtheile von Statuen geklebt, bringen ſchon obscöne Wirkungen hervor, weil ſie aufmerkſam darauf machen und ſie iſoliren. Man wolle dies nicht ſo verſtehen, als ſollte geſagt ſein, daß die Kunſt nicht wohl thue, keuſch zu ſein; wir wollen nur be¬ merklich machen, daß Keuſchheit und Prüderie nicht daſſelbe iſt. Das Obscöne beginnt erſt mit der ſexuellen Beziehung, weil das geſchlechtliche Gefühl das Schamglied des Mannes erregt und ihm eine häßliche Form gibt, die in dieſem Zu¬ ſtande zur übrigen Geſtalt in ein Mißverhältniß tritt. Das Weib iſt von der Natur ſchämiger behandelt worden, aber

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/257>, abgerufen am 22.11.2024.