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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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Einrichtung des Gemeinwesens gesetzlich ordnen will. Die
Männer, heißt dies, sind nicht mehr Männer; die Weiber
sind hier die Männer. Daher erscheint Blepyros auch mit
dem halbgefütterten Mäntelchen seiner Frau und in ihren
Perserschuhen; sein Nachbar tritt zu ihm -- und beide ehren¬
werthe Staatsbürger unterhalten sich nun über die Noth¬
durft des Blepyros, dem plötzlich "eine Holzbirne den
Nahrungsgang eingesperrt hält." Geistreicher Gesprächs¬
stoff, den Aristophanes aber sogleich satirisch wendet, mit
dieser Scene nicht nur politische Anspielungen verknüpfend,
sondern auch jene Dichter verspottend, die in ihren Komödien
dem Publicum durch ein Uebermaaß so greller Cynismen das
Attische Salz, dessen sie entbehrten, ersetzen wollten.

Die Caricatur treibt ein Besonderes über das Maaß
hinaus, erzeugt dadurch ein Mißverhältniß und wird, indem
sie an ihr ideales Gegentheil erinnert, komisch. Sie wird
damit komisch, denn an sich ist es nicht nothwendig, daß
jede Caricatur komisch wirke, da sie nämlich als Verzerrung
auch einfach häßlich oder fürchterlich sein kann. Die gleich¬
mäßige Vergrößerung oder Verkleinerung über die normale
Größe hinaus würde z. B. noch keine Caricatur hervor¬
bringen, weil bei solchem Hinausgehen über die Norm oder
Zurückbleiben hinter derselben doch die Einheit aller Verhält¬
nisse bewahrt bleiben würde. Napoleons Statue auf der
Vendomesäule ist colossal und muß es sein, den Propor¬
tionen der umgebenden Häusermassen und der Säule selber
gemäß. Eine Nachbildung dieser Statue aus Eisenguß in
Fingergröße, die wir auf unsern Schreibtisch stellen, ist keine
Caricatur. So ist ein Lappländer, der nur vier Fuß groß,
aber vollkommen proportionirt ist, so wenig eine Caricatur,
als die Zwergbirke seiner Triften. Die Zwerggröße ist die

Einrichtung des Gemeinweſens geſetzlich ordnen will. Die
Männer, heißt dies, ſind nicht mehr Männer; die Weiber
ſind hier die Männer. Daher erſcheint Blepyros auch mit
dem halbgefütterten Mäntelchen ſeiner Frau und in ihren
Perſerſchuhen; ſein Nachbar tritt zu ihm — und beide ehren¬
werthe Staatsbürger unterhalten ſich nun über die Noth¬
durft des Blepyros, dem plötzlich „eine Holzbirne den
Nahrungsgang eingeſperrt hält.“ Geiſtreicher Geſprächs¬
ſtoff, den Ariſtophanes aber ſogleich ſatiriſch wendet, mit
dieſer Scene nicht nur politiſche Anſpielungen verknüpfend,
ſondern auch jene Dichter verſpottend, die in ihren Komödien
dem Publicum durch ein Uebermaaß ſo greller Cynismen das
Attiſche Salz, deſſen ſie entbehrten, erſetzen wollten.

Die Caricatur treibt ein Beſonderes über das Maaß
hinaus, erzeugt dadurch ein Mißverhältniß und wird, indem
ſie an ihr ideales Gegentheil erinnert, komiſch. Sie wird
damit komiſch, denn an ſich iſt es nicht nothwendig, daß
jede Caricatur komiſch wirke, da ſie nämlich als Verzerrung
auch einfach häßlich oder fürchterlich ſein kann. Die gleich¬
mäßige Vergrößerung oder Verkleinerung über die normale
Größe hinaus würde z. B. noch keine Caricatur hervor¬
bringen, weil bei ſolchem Hinausgehen über die Norm oder
Zurückbleiben hinter derſelben doch die Einheit aller Verhält¬
niſſe bewahrt bleiben würde. Napoleons Statue auf der
Vendomeſäule iſt coloſſal und muß es ſein, den Propor¬
tionen der umgebenden Häuſermaſſen und der Säule ſelber
gemäß. Eine Nachbildung dieſer Statue aus Eiſenguß in
Fingergröße, die wir auf unſern Schreibtiſch ſtellen, iſt keine
Caricatur. So iſt ein Lappländer, der nur vier Fuß groß,
aber vollkommen proportionirt iſt, ſo wenig eine Caricatur,
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[173/0195] Einrichtung des Gemeinweſens geſetzlich ordnen will. Die Männer, heißt dies, ſind nicht mehr Männer; die Weiber ſind hier die Männer. Daher erſcheint Blepyros auch mit dem halbgefütterten Mäntelchen ſeiner Frau und in ihren Perſerſchuhen; ſein Nachbar tritt zu ihm — und beide ehren¬ werthe Staatsbürger unterhalten ſich nun über die Noth¬ durft des Blepyros, dem plötzlich „eine Holzbirne den Nahrungsgang eingeſperrt hält.“ Geiſtreicher Geſprächs¬ ſtoff, den Ariſtophanes aber ſogleich ſatiriſch wendet, mit dieſer Scene nicht nur politiſche Anſpielungen verknüpfend, ſondern auch jene Dichter verſpottend, die in ihren Komödien dem Publicum durch ein Uebermaaß ſo greller Cynismen das Attiſche Salz, deſſen ſie entbehrten, erſetzen wollten. Die Caricatur treibt ein Beſonderes über das Maaß hinaus, erzeugt dadurch ein Mißverhältniß und wird, indem ſie an ihr ideales Gegentheil erinnert, komiſch. Sie wird damit komiſch, denn an ſich iſt es nicht nothwendig, daß jede Caricatur komiſch wirke, da ſie nämlich als Verzerrung auch einfach häßlich oder fürchterlich ſein kann. Die gleich¬ mäßige Vergrößerung oder Verkleinerung über die normale Größe hinaus würde z. B. noch keine Caricatur hervor¬ bringen, weil bei ſolchem Hinausgehen über die Norm oder Zurückbleiben hinter derſelben doch die Einheit aller Verhält¬ niſſe bewahrt bleiben würde. Napoleons Statue auf der Vendomeſäule iſt coloſſal und muß es ſein, den Propor¬ tionen der umgebenden Häuſermaſſen und der Säule ſelber gemäß. Eine Nachbildung dieſer Statue aus Eiſenguß in Fingergröße, die wir auf unſern Schreibtiſch ſtellen, iſt keine Caricatur. So iſt ein Lappländer, der nur vier Fuß groß, aber vollkommen proportionirt iſt, ſo wenig eine Caricatur, als die Zwergbirke ſeiner Triften. Die Zwerggröße iſt die

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/195>, abgerufen am 24.11.2024.