Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

verletzen. Die Excentricität muß innerhalb ihrer Wirbel eine
gewisse Möglichkeit behalten; d. h. man darf nicht schon,
womit so viele Heutige zufrieden sind, das Absurde mit dem
Phantastischen verwechseln. Manche Autoren der ältern
romantischen Schule in Deutschland haben ihre gesunden
Anfänge in eine geschmacklose Verworrenheit auslaufen lassen,
die sie für den Gipfel poetischen Tiefsinns nahmen, während
sie damit in der That nur beim Absurden, beim ideenlosen
Nihilismus angelangt waren. Arnim's treffliche Dolores,
Brentano's Godwi oder das steinerne Bild der Mutter,
sind Beispiele dazu (28). -- Unter den modernen Malern
hat Grandville sich wohl als einen Riesen der phantastischen
Kunst bewährt. Wie wunderbar sind in seinen Fleurs animes
die Mädchengestalten mit den Blumenformen verwebt, so
daß man nicht weiß, soll man sagen, die Mädchen seien
zu Blumen oder die Blumen zu Mädchen geworden! Die
Blume ist nur ein Schmuck, aber ein so botanisch correcter,
daß seine Drapperie mit der menschlichen Gestalt den identischen
Charakter zeigt (29). In seinem Werk, un autre monde,
unstreitig dem Culminationspunct seines Genies, hat er sich
aber in Wagnisse eingelassen, deren Widersprüche unsere
Phantasie völlig zerreißen. Wir stehen mit ihnen an der
Grenze des Wahnsinns und vermögen die Anschauung kaum
zu ertragen. Worin liegt das Peinliche mancher dieser
Bilder? Wir glauben darin, daß Grandville innerhalb
des Phantastischen nicht nur der ästhetischen Wahrscheinlichkeit
treu blieb, vielmehr in der absoluten Losgelassenheit der
dichtenden Willkür eine erschreckende Naturwahrheit behalten
hat. Die Höllenbreughel, die Teniers und Callot
haben für ihre Versuchungen des heiligen Antonius
höchst phantastische Figuren erschaffen, die aber von aller

verletzen. Die Excentricität muß innerhalb ihrer Wirbel eine
gewiſſe Möglichkeit behalten; d. h. man darf nicht ſchon,
womit ſo viele Heutige zufrieden ſind, das Abſurde mit dem
Phantaſtiſchen verwechſeln. Manche Autoren der ältern
romantiſchen Schule in Deutſchland haben ihre geſunden
Anfänge in eine geſchmackloſe Verworrenheit auslaufen laſſen,
die ſie für den Gipfel poetiſchen Tiefſinns nahmen, während
ſie damit in der That nur beim Abſurden, beim ideenloſen
Nihilismus angelangt waren. Arnim's treffliche Dolores,
Brentano's Godwi oder das ſteinerne Bild der Mutter,
ſind Beiſpiele dazu (28). — Unter den modernen Malern
hat Grandville ſich wohl als einen Rieſen der phantaſtiſchen
Kunſt bewährt. Wie wunderbar ſind in ſeinen Fleurs animés
die Mädchengeſtalten mit den Blumenformen verwebt, ſo
daß man nicht weiß, ſoll man ſagen, die Mädchen ſeien
zu Blumen oder die Blumen zu Mädchen geworden! Die
Blume iſt nur ein Schmuck, aber ein ſo botaniſch correcter,
daß ſeine Drapperie mit der menſchlichen Geſtalt den identiſchen
Charakter zeigt (29). In ſeinem Werk, un autre monde,
unſtreitig dem Culminationspunct ſeines Genies, hat er ſich
aber in Wagniſſe eingelaſſen, deren Widerſprüche unſere
Phantaſie völlig zerreißen. Wir ſtehen mit ihnen an der
Grenze des Wahnſinns und vermögen die Anſchauung kaum
zu ertragen. Worin liegt das Peinliche mancher dieſer
Bilder? Wir glauben darin, daß Grandville innerhalb
des Phantaſtiſchen nicht nur der äſthetiſchen Wahrſcheinlichkeit
treu blieb, vielmehr in der abſoluten Losgelaſſenheit der
dichtenden Willkür eine erſchreckende Naturwahrheit behalten
hat. Die Höllenbreughel, die Teniers und Callot
haben für ihre Verſuchungen des heiligen Antonius
höchſt phantaſtiſche Figuren erſchaffen, die aber von aller

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0157" n="135"/>
verletzen. Die Excentricität muß innerhalb ihrer Wirbel eine<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;e Möglichkeit behalten; d. h. man darf nicht &#x017F;chon,<lb/>
womit &#x017F;o viele Heutige zufrieden &#x017F;ind, das Ab&#x017F;urde mit dem<lb/>
Phanta&#x017F;ti&#x017F;chen verwech&#x017F;eln. Manche Autoren der ältern<lb/>
romanti&#x017F;chen Schule in Deut&#x017F;chland haben ihre ge&#x017F;unden<lb/>
Anfänge in eine ge&#x017F;chmacklo&#x017F;e Verworrenheit auslaufen la&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
die &#x017F;ie für den Gipfel poeti&#x017F;chen Tief&#x017F;inns nahmen, während<lb/>
&#x017F;ie damit in der That nur beim Ab&#x017F;urden, beim ideenlo&#x017F;en<lb/>
Nihilismus angelangt waren. <hi rendition="#g">Arnim's</hi> treffliche <hi rendition="#g">Dolores</hi>,<lb/><hi rendition="#g">Brentano's Godwi</hi> oder das &#x017F;teinerne Bild der Mutter,<lb/>
&#x017F;ind Bei&#x017F;piele dazu (28). &#x2014; Unter den modernen Malern<lb/>
hat <hi rendition="#g">Grandville</hi> &#x017F;ich wohl als einen Rie&#x017F;en der phanta&#x017F;ti&#x017F;chen<lb/>
Kun&#x017F;t bewährt. Wie wunderbar &#x017F;ind in &#x017F;einen <hi rendition="#aq">Fleurs animés</hi><lb/>
die Mädchenge&#x017F;talten mit den Blumenformen verwebt, &#x017F;o<lb/>
daß man nicht weiß, &#x017F;oll man &#x017F;agen, die Mädchen &#x017F;eien<lb/>
zu Blumen oder die Blumen zu Mädchen geworden! Die<lb/>
Blume i&#x017F;t nur ein Schmuck, aber ein &#x017F;o botani&#x017F;ch correcter,<lb/>
daß &#x017F;eine Drapperie mit der men&#x017F;chlichen Ge&#x017F;talt den identi&#x017F;chen<lb/>
Charakter zeigt (29). In &#x017F;einem Werk, <hi rendition="#aq">un autre monde</hi>,<lb/>
un&#x017F;treitig dem Culminationspunct &#x017F;eines Genies, hat er &#x017F;ich<lb/>
aber in Wagni&#x017F;&#x017F;e eingela&#x017F;&#x017F;en, deren Wider&#x017F;prüche un&#x017F;ere<lb/>
Phanta&#x017F;ie völlig zerreißen. Wir &#x017F;tehen mit ihnen an der<lb/>
Grenze des Wahn&#x017F;inns und vermögen die An&#x017F;chauung kaum<lb/>
zu ertragen. Worin liegt das Peinliche mancher die&#x017F;er<lb/>
Bilder? Wir glauben darin, daß <hi rendition="#g">Grandville</hi> innerhalb<lb/>
des Phanta&#x017F;ti&#x017F;chen nicht nur der ä&#x017F;theti&#x017F;chen Wahr&#x017F;cheinlichkeit<lb/>
treu blieb, vielmehr in der ab&#x017F;oluten Losgela&#x017F;&#x017F;enheit der<lb/>
dichtenden Willkür eine er&#x017F;chreckende Naturwahrheit behalten<lb/>
hat. Die <hi rendition="#g">Höllenbreughel</hi>, die <hi rendition="#g">Teniers</hi> und <hi rendition="#g">Callot</hi><lb/>
haben für ihre <hi rendition="#g">Ver&#x017F;uchungen des heiligen Antonius</hi><lb/>
höch&#x017F;t phanta&#x017F;ti&#x017F;che Figuren er&#x017F;chaffen, die aber von aller<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[135/0157] verletzen. Die Excentricität muß innerhalb ihrer Wirbel eine gewiſſe Möglichkeit behalten; d. h. man darf nicht ſchon, womit ſo viele Heutige zufrieden ſind, das Abſurde mit dem Phantaſtiſchen verwechſeln. Manche Autoren der ältern romantiſchen Schule in Deutſchland haben ihre geſunden Anfänge in eine geſchmackloſe Verworrenheit auslaufen laſſen, die ſie für den Gipfel poetiſchen Tiefſinns nahmen, während ſie damit in der That nur beim Abſurden, beim ideenloſen Nihilismus angelangt waren. Arnim's treffliche Dolores, Brentano's Godwi oder das ſteinerne Bild der Mutter, ſind Beiſpiele dazu (28). — Unter den modernen Malern hat Grandville ſich wohl als einen Rieſen der phantaſtiſchen Kunſt bewährt. Wie wunderbar ſind in ſeinen Fleurs animés die Mädchengeſtalten mit den Blumenformen verwebt, ſo daß man nicht weiß, ſoll man ſagen, die Mädchen ſeien zu Blumen oder die Blumen zu Mädchen geworden! Die Blume iſt nur ein Schmuck, aber ein ſo botaniſch correcter, daß ſeine Drapperie mit der menſchlichen Geſtalt den identiſchen Charakter zeigt (29). In ſeinem Werk, un autre monde, unſtreitig dem Culminationspunct ſeines Genies, hat er ſich aber in Wagniſſe eingelaſſen, deren Widerſprüche unſere Phantaſie völlig zerreißen. Wir ſtehen mit ihnen an der Grenze des Wahnſinns und vermögen die Anſchauung kaum zu ertragen. Worin liegt das Peinliche mancher dieſer Bilder? Wir glauben darin, daß Grandville innerhalb des Phantaſtiſchen nicht nur der äſthetiſchen Wahrſcheinlichkeit treu blieb, vielmehr in der abſoluten Losgelaſſenheit der dichtenden Willkür eine erſchreckende Naturwahrheit behalten hat. Die Höllenbreughel, die Teniers und Callot haben für ihre Verſuchungen des heiligen Antonius höchſt phantaſtiſche Figuren erſchaffen, die aber von aller

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/157
Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/157>, abgerufen am 02.05.2024.