Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

so sagen wir auch wohl: nach dem Leben. Obwohl nun
aber die Anschauung der Natur für die richtige Auffassung
derselben jederzeit bereitwillig sich darbietet, so ist die letztere
dennoch keineswegs so wohlfeil, als es scheinen möchte.
Ein rein gegenständliches Sehen und Hören ist keineswegs
eine so allgemein verbreitete Fähigkeit. Bei genauerem Be¬
trachten entdecken wir daher zu unserm Erstaunen gewöhnlich
mehr Incorrectheiten, als zunächst glaublich. Andere In¬
correctheiten entspringen aber auch aus der Fixirung von
Manieren, wie z. B. die überlangen Gestalten, Hände und
Füße in der Byzantinischen Malerei (25).

Die psychologische Richtigkeit nennen wir oftmals
auch Naturwahrheit. Sie umfaßt die Sphäre des Gemüths
in seinen Begierden, Neigungen und Leidenschaften; den
richtigen Ausdruck derselben in Gebehrden, Mienen, Worten;
nicht weniger aber auch die richtige Motivirung der Affecte.
Der Zusammenhang der Gefühle nach ihrem Inhalt, die
Form der Erscheinung derselben in mimischer, pathognomischer
und physiognomischer Beziehung, die Darstellung derselben in
Ton und Wort, bietet ein unendliches Feld zu Verletzungen
der objectiven Wahrheit dar, deren Correctur schon nicht so
leicht ist, als die von physischen Incorrectheiten. In der
Poesie, Musik und Malerei wird die psychologische Verirrung
bestimmter nachgewiesen werden können, als in der Sculptur,
weil diese, auf den generischen Ausdruck hinarbeitend, die
Entschiedenheit des Charakteristischen abzumildern und nicht
selten das abstract Allegorische darzustellen hat. So haben
die Franzosen z. B. einen Begriff in ihrer Poetik, den sie
la poesie legere nennen. Diesen Begriff hat Pradier in
einer Statue dargestellt, von welcher die Französischen Kunst¬
richter in den überschwänglichsten Ausdrücken reden und auf

ſo ſagen wir auch wohl: nach dem Leben. Obwohl nun
aber die Anſchauung der Natur für die richtige Auffaſſung
derſelben jederzeit bereitwillig ſich darbietet, ſo iſt die letztere
dennoch keineswegs ſo wohlfeil, als es ſcheinen möchte.
Ein rein gegenſtändliches Sehen und Hören iſt keineswegs
eine ſo allgemein verbreitete Fähigkeit. Bei genauerem Be¬
trachten entdecken wir daher zu unſerm Erſtaunen gewöhnlich
mehr Incorrectheiten, als zunächſt glaublich. Andere In¬
correctheiten entſpringen aber auch aus der Fixirung von
Manieren, wie z. B. die überlangen Geſtalten, Hände und
Füße in der Byzantiniſchen Malerei (25).

Die pſychologiſche Richtigkeit nennen wir oftmals
auch Naturwahrheit. Sie umfaßt die Sphäre des Gemüths
in ſeinen Begierden, Neigungen und Leidenſchaften; den
richtigen Ausdruck derſelben in Gebehrden, Mienen, Worten;
nicht weniger aber auch die richtige Motivirung der Affecte.
Der Zuſammenhang der Gefühle nach ihrem Inhalt, die
Form der Erſcheinung derſelben in mimiſcher, pathognomiſcher
und phyſiognomiſcher Beziehung, die Darſtellung derſelben in
Ton und Wort, bietet ein unendliches Feld zu Verletzungen
der objectiven Wahrheit dar, deren Correctur ſchon nicht ſo
leicht iſt, als die von phyſiſchen Incorrectheiten. In der
Poeſie, Muſik und Malerei wird die pſychologiſche Verirrung
beſtimmter nachgewieſen werden können, als in der Sculptur,
weil dieſe, auf den generiſchen Ausdruck hinarbeitend, die
Entſchiedenheit des Charakteriſtiſchen abzumildern und nicht
ſelten das abſtract Allegoriſche darzuſtellen hat. So haben
die Franzoſen z. B. einen Begriff in ihrer Poetik, den ſie
la poésie legère nennen. Dieſen Begriff hat Pradier in
einer Statue dargeſtellt, von welcher die Franzöſiſchen Kunſt¬
richter in den überſchwänglichſten Ausdrücken reden und auf

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0143" n="121"/>
&#x017F;o &#x017F;agen wir auch wohl: nach dem Leben. Obwohl nun<lb/>
aber die An&#x017F;chauung der Natur für die richtige Auffa&#x017F;&#x017F;ung<lb/>
der&#x017F;elben jederzeit bereitwillig &#x017F;ich darbietet, &#x017F;o i&#x017F;t die letztere<lb/>
dennoch keineswegs &#x017F;o wohlfeil, als es &#x017F;cheinen möchte.<lb/>
Ein rein gegen&#x017F;tändliches Sehen und Hören i&#x017F;t keineswegs<lb/>
eine &#x017F;o allgemein verbreitete Fähigkeit. Bei genauerem Be¬<lb/>
trachten entdecken wir daher zu un&#x017F;erm Er&#x017F;taunen gewöhnlich<lb/>
mehr Incorrectheiten, als zunäch&#x017F;t glaublich. Andere In¬<lb/>
correctheiten ent&#x017F;pringen aber auch aus der Fixirung von<lb/>
Manieren, wie z. B. die überlangen Ge&#x017F;talten, Hände und<lb/>
Füße in der <hi rendition="#g">Byzantini&#x017F;chen</hi> Malerei (25).</p><lb/>
            <p>Die <hi rendition="#g">p&#x017F;ychologi&#x017F;che</hi> Richtigkeit nennen wir oftmals<lb/>
auch Naturwahrheit. Sie umfaßt die Sphäre des Gemüths<lb/>
in &#x017F;einen Begierden, Neigungen und Leiden&#x017F;chaften; den<lb/>
richtigen Ausdruck der&#x017F;elben in Gebehrden, Mienen, Worten;<lb/>
nicht weniger aber auch die richtige Motivirung der Affecte.<lb/>
Der Zu&#x017F;ammenhang der Gefühle nach ihrem Inhalt, die<lb/>
Form der Er&#x017F;cheinung der&#x017F;elben in mimi&#x017F;cher, pathognomi&#x017F;cher<lb/>
und phy&#x017F;iognomi&#x017F;cher Beziehung, die Dar&#x017F;tellung der&#x017F;elben in<lb/>
Ton und Wort, bietet ein unendliches Feld zu Verletzungen<lb/>
der objectiven Wahrheit dar, deren Correctur &#x017F;chon nicht &#x017F;o<lb/>
leicht i&#x017F;t, als die von phy&#x017F;i&#x017F;chen Incorrectheiten. In der<lb/>
Poe&#x017F;ie, Mu&#x017F;ik und Malerei wird die p&#x017F;ychologi&#x017F;che Verirrung<lb/>
be&#x017F;timmter nachgewie&#x017F;en werden können, als in der Sculptur,<lb/>
weil die&#x017F;e, auf den generi&#x017F;chen Ausdruck hinarbeitend, die<lb/>
Ent&#x017F;chiedenheit des Charakteri&#x017F;ti&#x017F;chen abzumildern und nicht<lb/>
&#x017F;elten das ab&#x017F;tract Allegori&#x017F;che darzu&#x017F;tellen hat. So haben<lb/>
die Franzo&#x017F;en z. B. einen Begriff in ihrer Poetik, den &#x017F;ie<lb/><hi rendition="#aq">la poésie legère</hi> nennen. Die&#x017F;en Begriff hat <hi rendition="#g">Pradier</hi> in<lb/>
einer Statue darge&#x017F;tellt, von welcher die Franzö&#x017F;i&#x017F;chen Kun&#x017F;<lb/>
richter in den über&#x017F;chwänglich&#x017F;ten Ausdrücken reden und auf<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[121/0143] ſo ſagen wir auch wohl: nach dem Leben. Obwohl nun aber die Anſchauung der Natur für die richtige Auffaſſung derſelben jederzeit bereitwillig ſich darbietet, ſo iſt die letztere dennoch keineswegs ſo wohlfeil, als es ſcheinen möchte. Ein rein gegenſtändliches Sehen und Hören iſt keineswegs eine ſo allgemein verbreitete Fähigkeit. Bei genauerem Be¬ trachten entdecken wir daher zu unſerm Erſtaunen gewöhnlich mehr Incorrectheiten, als zunächſt glaublich. Andere In¬ correctheiten entſpringen aber auch aus der Fixirung von Manieren, wie z. B. die überlangen Geſtalten, Hände und Füße in der Byzantiniſchen Malerei (25). Die pſychologiſche Richtigkeit nennen wir oftmals auch Naturwahrheit. Sie umfaßt die Sphäre des Gemüths in ſeinen Begierden, Neigungen und Leidenſchaften; den richtigen Ausdruck derſelben in Gebehrden, Mienen, Worten; nicht weniger aber auch die richtige Motivirung der Affecte. Der Zuſammenhang der Gefühle nach ihrem Inhalt, die Form der Erſcheinung derſelben in mimiſcher, pathognomiſcher und phyſiognomiſcher Beziehung, die Darſtellung derſelben in Ton und Wort, bietet ein unendliches Feld zu Verletzungen der objectiven Wahrheit dar, deren Correctur ſchon nicht ſo leicht iſt, als die von phyſiſchen Incorrectheiten. In der Poeſie, Muſik und Malerei wird die pſychologiſche Verirrung beſtimmter nachgewieſen werden können, als in der Sculptur, weil dieſe, auf den generiſchen Ausdruck hinarbeitend, die Entſchiedenheit des Charakteriſtiſchen abzumildern und nicht ſelten das abſtract Allegoriſche darzuſtellen hat. So haben die Franzoſen z. B. einen Begriff in ihrer Poetik, den ſie la poésie legère nennen. Dieſen Begriff hat Pradier in einer Statue dargeſtellt, von welcher die Franzöſiſchen Kunſt¬ richter in den überſchwänglichſten Ausdrücken reden und auf

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/143
Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/143>, abgerufen am 06.05.2024.