Brudermörder Kain zum erstenmale unter dem wilden Astgeflechte der Lärche geruht hat, bis zur Stunde, wo ein Anderer, auch ein Heimatloser, den Wohl- duft der weichen, hellgrünen Nadeln friedlich trinkt.
Dunkel ist's, wie in einem gothischen Tempel; nur der Nadelwald baut den Spitzbogenstyl. Oben- hin ragen die hunderttausend Thürmchen der Wipfel; dazwischen nieder auf den schattigen Grund leuchtet, wie in kleinen Täfelchen zerschnit- ten, die tiefe Himmelsbläue. Oder es segeln hoch oben weiße Wölkelein hin, und suchen mich zu erspähen, mich, das Würmchen im Waldfilz, und wehen mir einen Gruß zu -- von . . . . Nein, sie ist geborgen unter stolzem Dache von Menschen- hand; ihr Wolken habt sie nicht gesehen, oder habt ihr sie? -- Ach, sie wehen von fernen Oeden und Meeren.
Da flüstert es, da säuselt es; es sprechen miteinander die Bäume. Es träumt der Wald.
Eine schneeweiße, große Blüte weht heran; blühen die Nadelwälder denn nicht in den Bluts- tropfen ihrer purpurnen Zäpfchen? Woher die weiße Blüte? Es ist ein Schmetterling, der sich verirrt von seiner sonnigen Wiese und nun im Dunkel des Waldes angstvoll gaukelt.
Wer bricht aber in den verwachsenen Kronen die Aeste entzwei, daß sie krachen und prasseln und
Brudermörder Kain zum erſtenmale unter dem wilden Aſtgeflechte der Lärche geruht hat, bis zur Stunde, wo ein Anderer, auch ein Heimatloſer, den Wohl- duft der weichen, hellgrünen Nadeln friedlich trinkt.
Dunkel iſt’s, wie in einem gothiſchen Tempel; nur der Nadelwald baut den Spitzbogenſtyl. Oben- hin ragen die hunderttauſend Thürmchen der Wipfel; dazwiſchen nieder auf den ſchattigen Grund leuchtet, wie in kleinen Täfelchen zerſchnit- ten, die tiefe Himmelsbläue. Oder es ſegeln hoch oben weiße Wölkelein hin, und ſuchen mich zu erſpähen, mich, das Würmchen im Waldfilz, und wehen mir einen Gruß zu — von . . . . Nein, ſie iſt geborgen unter ſtolzem Dache von Menſchen- hand; ihr Wolken habt ſie nicht geſehen, oder habt ihr ſie? — Ach, ſie wehen von fernen Oeden und Meeren.
Da flüſtert es, da ſäuſelt es; es ſprechen miteinander die Bäume. Es träumt der Wald.
Eine ſchneeweiße, große Blüte weht heran; blühen die Nadelwälder denn nicht in den Bluts- tropfen ihrer purpurnen Zäpfchen? Woher die weiße Blüte? Es iſt ein Schmetterling, der ſich verirrt von ſeiner ſonnigen Wieſe und nun im Dunkel des Waldes angſtvoll gaukelt.
Wer bricht aber in den verwachſenen Kronen die Aeſte entzwei, daß ſie krachen und praſſeln und
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Brudermörder Kain zum erſtenmale unter dem wilden
Aſtgeflechte der Lärche geruht hat, bis zur Stunde,
wo ein Anderer, auch ein Heimatloſer, den Wohl-
duft der weichen, hellgrünen Nadeln friedlich trinkt.
Dunkel iſt’s, wie in einem gothiſchen Tempel;
nur der Nadelwald baut den Spitzbogenſtyl. Oben-
hin ragen die hunderttauſend Thürmchen der
Wipfel; dazwiſchen nieder auf den ſchattigen
Grund leuchtet, wie in kleinen Täfelchen zerſchnit-
ten, die tiefe Himmelsbläue. Oder es ſegeln hoch
oben weiße Wölkelein hin, und ſuchen mich zu
erſpähen, mich, das Würmchen im Waldfilz, und
wehen mir einen Gruß zu — von . . . . Nein,
ſie iſt geborgen unter ſtolzem Dache von Menſchen-
hand; ihr Wolken habt ſie nicht geſehen, oder habt
ihr ſie? — Ach, ſie wehen von fernen Oeden
und Meeren.
Da flüſtert es, da ſäuſelt es; es ſprechen
miteinander die Bäume. Es träumt der Wald.
Eine ſchneeweiße, große Blüte weht heran;
blühen die Nadelwälder denn nicht in den Bluts-
tropfen ihrer purpurnen Zäpfchen? Woher die
weiße Blüte? Es iſt ein Schmetterling, der ſich
verirrt von ſeiner ſonnigen Wieſe und nun im
Dunkel des Waldes angſtvoll gaukelt.
Wer bricht aber in den verwachſenen Kronen
die Aeſte entzwei, daß ſie krachen und praſſeln und
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Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/88>, abgerufen am 23.11.2024.
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