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Roquette, Otto: Die Schlangenkönigin. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 221–335. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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auf einige Zeilen, von einer fremden Hand geschrieben. Eine zwar nicht sehr gewandte, aber saubere Schrift. Ueberrascht las ich folgende Verse:

Meine Sehnsucht kann nicht schweigen, Und ich frage Nacht und Tag: Will sich denn kein Weg mir zeigen, Wie zu dir ich kommen mag? Nimm hinweg des Herzens Gram, Meiner Seele Bräutigam!

Es war eine Strophe aus einem alten, ich glaube Herrnhutischen Gesangbuche. Die Schulkinder sangen das Lied, ich kannte es, es hatte eine wehmüthige, in ihrer Einfachheit ergreifende Melodie. Aber warum standen diese Verse hier? War ihr ursprünglich religiöser Sinn hier weltlich zu verstehen?

Was sollte ich davon denken? Hatte das Marie geschrieben? Ich suchte mir ihr Wesen gegen mich aus der heutigen Fahrt zu vergegenwärtigen, vor allem ihre Ueberraschung, ihren Schreck, ihre Befangenheit, als sie mir so unvermuthet begegnete. Warum hatte sie mir nicht offen gesagt, daß sie in Leipe gewesen, um mir das gefundene Büchlein zu bringen? Mußte ich nicht annehmen, daß sie, um mir auf dem gewöhnlichen Fahrwasser nicht zu begegnen, jenen bedeutenden Umweg gemacht habe? Und dann ihre räthselhaften Aeußerungen! Und Franzens ebenso räthselhaftes Benehmen! Im Innersten erschrocken sprang ich auf, denn alle Räthsel schienen mir gelöst. Aber die Lösung war mir

auf einige Zeilen, von einer fremden Hand geschrieben. Eine zwar nicht sehr gewandte, aber saubere Schrift. Ueberrascht las ich folgende Verse:

Meine Sehnsucht kann nicht schweigen, Und ich frage Nacht und Tag: Will sich denn kein Weg mir zeigen, Wie zu dir ich kommen mag? Nimm hinweg des Herzens Gram, Meiner Seele Bräutigam!

Es war eine Strophe aus einem alten, ich glaube Herrnhutischen Gesangbuche. Die Schulkinder sangen das Lied, ich kannte es, es hatte eine wehmüthige, in ihrer Einfachheit ergreifende Melodie. Aber warum standen diese Verse hier? War ihr ursprünglich religiöser Sinn hier weltlich zu verstehen?

Was sollte ich davon denken? Hatte das Marie geschrieben? Ich suchte mir ihr Wesen gegen mich aus der heutigen Fahrt zu vergegenwärtigen, vor allem ihre Ueberraschung, ihren Schreck, ihre Befangenheit, als sie mir so unvermuthet begegnete. Warum hatte sie mir nicht offen gesagt, daß sie in Leipe gewesen, um mir das gefundene Büchlein zu bringen? Mußte ich nicht annehmen, daß sie, um mir auf dem gewöhnlichen Fahrwasser nicht zu begegnen, jenen bedeutenden Umweg gemacht habe? Und dann ihre räthselhaften Aeußerungen! Und Franzens ebenso räthselhaftes Benehmen! Im Innersten erschrocken sprang ich auf, denn alle Räthsel schienen mir gelöst. Aber die Lösung war mir

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          <l>Und ich frage Nacht und Tag:</l>
          <l>Will sich denn kein Weg mir zeigen,</l>
          <l>Wie zu dir ich kommen mag?</l>
          <l>Nimm hinweg des Herzens Gram,</l>
          <l>Meiner Seele Bräutigam!</l>
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[0089] auf einige Zeilen, von einer fremden Hand geschrieben. Eine zwar nicht sehr gewandte, aber saubere Schrift. Ueberrascht las ich folgende Verse: Meine Sehnsucht kann nicht schweigen, Und ich frage Nacht und Tag: Will sich denn kein Weg mir zeigen, Wie zu dir ich kommen mag? Nimm hinweg des Herzens Gram, Meiner Seele Bräutigam! Es war eine Strophe aus einem alten, ich glaube Herrnhutischen Gesangbuche. Die Schulkinder sangen das Lied, ich kannte es, es hatte eine wehmüthige, in ihrer Einfachheit ergreifende Melodie. Aber warum standen diese Verse hier? War ihr ursprünglich religiöser Sinn hier weltlich zu verstehen? Was sollte ich davon denken? Hatte das Marie geschrieben? Ich suchte mir ihr Wesen gegen mich aus der heutigen Fahrt zu vergegenwärtigen, vor allem ihre Ueberraschung, ihren Schreck, ihre Befangenheit, als sie mir so unvermuthet begegnete. Warum hatte sie mir nicht offen gesagt, daß sie in Leipe gewesen, um mir das gefundene Büchlein zu bringen? Mußte ich nicht annehmen, daß sie, um mir auf dem gewöhnlichen Fahrwasser nicht zu begegnen, jenen bedeutenden Umweg gemacht habe? Und dann ihre räthselhaften Aeußerungen! Und Franzens ebenso räthselhaftes Benehmen! Im Innersten erschrocken sprang ich auf, denn alle Räthsel schienen mir gelöst. Aber die Lösung war mir

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T10:15:33Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Roquette, Otto: Die Schlangenkönigin. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 221–335. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/roquette_schlangenkoenigin_1910/89>, abgerufen am 04.05.2024.