allen muste man immer den Schein zu behal- ten suchen, als ob man von den Gesetzen nicht abweiche. Zu solchem Ende suchte man, wie noch heut zu Tage die Gesetz-Verdreher es vielfältig machen, die besondern Umstände des streitigen Casus zusammen, und gab vor, es sey derselbe solcher concurrirenden Umstände hal- ber unter dem Gesetz nicht mit begriffen. Da- her sind die vielen abgeschmackten Distinctio- nes entstanden, mit welchen man den tummen Pöbel bereden wolte, es sey alles in den Gesetzen gegründet, und diejenigen, welchen es nicht in den Sinn wolte, wären der Rechte und der Gelehrten Weißheit unerfahren. Zum Exem- pel: Wenn der Praetor wider den Lauff der Gesetze iemanden eine Erbschafft zusprach, so hieß es, er räume nicht die Erbschafft ein, son- dern den Besitz der Güter. Wenn er einen Tausch umstossen wolte, wendete er vor, es sey kein Tausch, welcher ein contractus bonae fidei ist, sondern ein anderer contractus stricti juris, da man einem etwas giebt, daß er wieder etwas gebe, u. s. w.
§. 8. Es mag auch wohl vor einen Man- gel unserer Gesetze mit gehalten werden, daß wir einen so grossen Uberfluß derselben haben. Wenn man die ungeheuren Volumina des Corporis juris civilis und Canonici, der
Reichs-
allen muſte man immer den Schein zu behal- ten ſuchen, als ob man von den Geſetzen nicht abweiche. Zu ſolchem Ende ſuchte man, wie noch heut zu Tage die Geſetz-Verdreher es vielfaͤltig machen, die beſondern Umſtaͤnde des ſtreitigen Caſus zuſammen, und gab vor, es ſey derſelbe ſolcher concurrirenden Umſtaͤnde hal- ber unter dem Geſetz nicht mit begriffen. Da- her ſind die vielen abgeſchmackten Diſtinctio- nes entſtanden, mit welchen man den tummen Poͤbel bereden wolte, es ſey alles in den Geſetzen gegruͤndet, und diejenigen, welchen es nicht in den Sinn wolte, waͤren der Rechte und der Gelehrten Weißheit unerfahren. Zum Exem- pel: Wenn der Prætor wider den Lauff der Geſetze iemanden eine Erbſchafft zuſprach, ſo hieß es, er raͤume nicht die Erbſchafft ein, ſon- dern den Beſitz der Guͤter. Wenn er einen Tauſch umſtoſſen wolte, wendete er vor, es ſey kein Tauſch, welcher ein contractus bonæ fidei iſt, ſondern ein anderer contractus ſtricti juris, da man einem etwas giebt, daß er wieder etwas gebe, u. ſ. w.
§. 8. Es mag auch wohl vor einen Man- gel unſerer Geſetze mit gehalten werden, daß wir einen ſo groſſen Uberfluß derſelben haben. Wenn man die ungeheuren Volumina des Corporis juris civilis und Canonici, der
Reichs-
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allen muſte man immer den Schein zu behal-
ten ſuchen, als ob man von den Geſetzen nicht
abweiche. Zu ſolchem Ende ſuchte man, wie
noch heut zu Tage die Geſetz-Verdreher es
vielfaͤltig machen, die beſondern Umſtaͤnde des
ſtreitigen Caſus zuſammen, und gab vor, es ſey
derſelbe ſolcher concurrirenden Umſtaͤnde hal-
ber unter dem Geſetz nicht mit begriffen. Da-
her ſind die vielen abgeſchmackten Diſtinctio-
nes entſtanden, mit welchen man den tummen
Poͤbel bereden wolte, es ſey alles in den Geſetzen
gegruͤndet, und diejenigen, welchen es nicht in
den Sinn wolte, waͤren der Rechte und der
Gelehrten Weißheit unerfahren. Zum Exem-
pel: Wenn der Prætor wider den Lauff der
Geſetze iemanden eine Erbſchafft zuſprach, ſo
hieß es, er raͤume nicht die Erbſchafft ein, ſon-
dern den Beſitz der Guͤter. Wenn er einen
Tauſch umſtoſſen wolte, wendete er vor, es ſey
kein Tauſch, welcher ein contractus bonæ fidei
iſt, ſondern ein anderer contractus ſtricti juris,
da man einem etwas giebt, daß er wieder etwas
gebe, u. ſ. w.
§. 8. Es mag auch wohl vor einen Man-
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Rohr, Julius Bernhard von: Einleitung zur Staats-Klugheit. Leipzig, 1718, S. 575. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohr_julii_1718/595>, abgerufen am 22.11.2024.
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